Da vorne geht er...
Franz Kafka, der grosse Prager Dichter deutscher Sprache, ist in Prag allgegenwärtig. So findet man das bekannte Konterfei auf allen möglichen Souvenirs, von der Tasse bis zum T-Shirt, von der Kappe bis zur Anstecknadel. Dass man Kafka aber auch anders begegnen kann, das erzählt uns Alexander Schneller in einer kleinen Fantasie.
Es ist ein Frühlingstag. Ich schlendere über den Altstädterring Richtung Moldauufer, mit Winterjacke, Schal und Handschuhen ausgerüstet. Schon gelange ich zu dem kleinen Platz an der Nordseite des Rings, der bis vor noch nicht allzu langer Zeit prosaisch U radnice (beim Rathaus) hiess und heute poetisch den Namen des grössten Prager Dichters deutscher Sprache trägt: Nám"stí France Kafky (Franz Kafka Platz). Es erfüllt mich immer von Neuem mit Freude, dass der poeta laureatus endlich in seiner Heimatstadt einen Ort gefunden hat, der würdig an ihn erinnert. So bleibe ich auch diesmal kurz stehen, gedenke des Jahrhundertdichters und lasse dabei meinen Blick schweifen vom Rathaus zur Nikolaus-Kirche, vom Kafka Geburtshaus mit der Gedenktafel zur Kaprova/Karpfengasse. Da stutze ich, denn einige Schritte von mir entfernt erkenne ich eine Gestalt: von hinten gesehen einen ziemlich grossen Mann mit schwarzem, langem Mantel und einem schwarzen Krempenhut, die Schultern leicht angezogen, den Oberkörper etwas nach vorne gebeugt, die Arme nach hinten verschränkt, so geht er mit staksigen, aber zügigen Schritten die Gasse hinunter. Ich könnte schwören, er ists, wenns nicht völlig unmöglich wäre: Da vorne geht Franz Kafka. Ich setze mich wieder in Bewegung, beschleunige unwillkürlich meinen Gang, wie wenn ich ihn einholen wollte. Und je näher ich komme, umso überzeugter bin ich: Er muss es sein, kein Zweifel. Jetzt bleibt er stehen und dreht sich um und scheint auf mich zu warten. Sein Mund lächelt leicht, seine schwarzen Augen und das scharf geschnittene Gesicht mir zugewandt, steht er da und erwartet mich offenbar tatsächlich. Ich allerdings habe meinen Schritt verlangsamt, denn ich bin verwirrt und weiss nicht, was ich davon zu halten habe. Er aber macht jetzt einen Schritt seitwärts und nach vorne, breitet sogar die Arme aus, seine Augen strahlen, und wie ich mich zu einem allerdings sehr verlegenen Lächeln durchringe, da stöckelt eine ansehnliche junge Dame links an mir vorbei geradewegs in seine Arme. Sie begrüssen einander innig und er zieht sie hurtig ins Kentucky Fried Chicken Restaurant. Und wie eine zerplatzte Seifenblase ist aller Spuk zu Ende. Natürlich trug er keinen langen, schwarzen Wintermantel, sondern eine sportliche Lederjacke, keinen Hut mit Krempe, sondern eine Baseballmütze, und natürlich waren seine Augen nicht schwarz und seine Gesichtszüge nicht scharf geschnitten. Was solls, sage ich mir und gehe langsam weiter, muss auch über mein Verhalten von eben lächeln. Trotzdem war es aufregend, wenigstens für ein paar Minuten daran zu glauben, dass da vorne Franz Kafka geht. Und irgendwie hoffe ich, dass er eines Tages doch auf mich zukommt, sich leicht verbeugt und lächelnd sagt:"Hell und sauber ist jetzt mein Prag. Aber das mit dem Platz war doch nicht nötig!" Dabei verbeugt er sich mit einem fast entschuldigenden Achselzucken leicht, dreht sich um und entschwindet.