Im Kinderwagen nach Melnik

Mělník (Foto: Krokodyl, CC BY-SA 3.0 Unported)

Melnik ist als Zentrum der Weinbauregion Mittelböhmens, als Leibgedingestadt der böhmischen Königinnen sowie als malerische Dominante über dem Zusammenfluss der Moldau und der Elbe bekannt. Weniger populär ist es als Stadt der Kinderwagen. Ab und zu taucht auch heute immer noch der früher bekannte Begriff "Liberta" in den Medien auf, und zwar im Zusammenhang mit dem Gerichtsverfahren gegen einen ehemaligen Minister, der die Fabrik mit diesem Namen zum Zusammenbruch führte. Noch vor einigen Jahren war Melnik jedoch auch der bekannteste Kinderwagenproduzent hierzulande. Die Tradition dieser Produktion geht tief in die Vergangenheit zurück, und die Kinderwagen bilden deswegen auch einen der Schwerpunkte im Regionalmuseum von Melnik. Das Museum hat kürzlich Markéta Maurová besucht, am Mikrophon ist des Weiteren Martina Schneibergova.

Mělník  (Foto: Krokodyl,  CC BY-SA 3.0 Unported)
Das Melniker Regionalmuseum ist seit 1999 im Gebäude des ehemaligen Kapuziner Klosters im östlichen Winkel des Hauptplatzes zu finden. Man kann dort Exponate wie in jedem anderen Regionalmuseum auch besichtigen, die die Region aus archäologischer, historischer, naturwissenschaftlicher und ethnographischer Perspektive präsentieren. Das Museum in Melnik spezialisiert sich aber auch auf zwei besondere Bereiche. Dazu verriet mir die stellvertretende Direktorin Nadezda Cerna mehr:

"Für unser Museum sind zwei Spezialisierungen charakteristisch. Die eine bezieht sich auf die Geschichte der Stadt, die seit ihrer Gründung mit der Geschichte des böhmischen Weinanbaus verknüpft ist. Unsere zweite Spezialisierung ist wohl eher für Frauen interessant, denn sie betrifft die Geschichte der Kinderwagen. In Melnik saß früher die Firma Liberta: sie konnte auf eine reiche Tradition zurückblicken, die bis ins Jahr 1926 ging. Damals verwandelte sich "Liberta" von einer Werkstatt in eine Kinderwagenfabrik. Auch in unserem Museum gab es eine kleinere Sammlung von Erzeugnissen dieser Firma und auf der Grundlage dieser Sammlung begannen wir in den 80er Jahren unsere Bestände zu erweitern. Heute haben wir über 200 Ausstellungsstücke, die die Entwicklung der Kinderwagen auf dem ganzen Gebiet der Tschechischen Republik dokumentieren."

Das Melniker Regionalmuseum  (Foto: Dezidor,  CC BY 3.0 Unported)
Die Frage nach dem interessantesten Stück war für Nadezda Cerna sehr schwer zu beantworten. Jeder Kinderwagen sei für sie der Beleg für eine bestimmte Zeit, ein bestimmtes Schicksal. Doch trotzdem gab sie mir schließlich eine Antwort.

"Am meisten sind wir auf unsere ältesten Kinderwagen stolz, d.h. jene aus den Jahren 1890-1900. Und dann auf eine mannigfaltige Reihe von Kinderwagen, die in den 30er Jahren produziert wurden. Damals, knapp vor dem Krieg, kam die größte Konjunktur in diesem Bereich und einzelne Fabriken wetteiferten miteinander darum, die modischsten und am besten ausgestatteten Kinderwagen auf den Markt zu bringen."

Sehr interessant sind für Nadezda Cerna auch Treffen mit Leuten, die dem Museum verschiedene Kinderwagen anbieten, betonte sie. Diese seien oft überrascht, wenn sie feststellen, wie alt ihr Kinderwagen ist. Da Kinderwagen eine ziemlich kostspielige Sache waren, wurden sie oft vererbt und nicht jedes neu geborene Baby hatte seinen eigenen Kinderwagen.

"Die Preisskala war sehr breit. Gängige Modelle waren billiger, sie kosteten etwa 60 Kronen, es gab aber auch Kinderwagen für 300 Kronen und mehr. Es lag an der Modernität und Ausstattung des Kinderwagens - etwa am Kugellager, an den Schutzblechen und natürlich am Material. Und noch krasser ist der Preisunterschied bei Tretautos und solchen Sachen. Zum Vergleich - eine Jause kostete etwa eine Krone und diese Autos etwa 600 bis 900 Kronen. Das war eine ausgesprochene Luxusangelegenheit."

Die Kinderwagen, die das Museum in seinen Beständen aufbewahrt, sind für die Öffentlichkeit zur Zeit nicht zugänglich. Es wird jedoch ein Haus in Melnik rekonstruiert, in dem sie - wohl im kommenden Jahr - ausgestellt werden. Diese Ausstellung wird nicht vereinzelte Wagen, sondern auch den Lebensstil präsentieren und die Entwicklung der Kinderwagen seit ihrer Entstehung bis zur Einführung der Serienproduktion dokumentieren, d.h. vom 19. Jahrhundert bis etwa 1970.

"Die Kinderwagen sind eigentlich zuerst in Adelsfamilien entstanden. Die ersten Kinderwagen sind Nachahmungen von verschiedenen Kutschen und Wagen. Später kamen die Kinderwagen natürlich auch in der Stadt in die Mode. Ursprünglich gab es keine spezialisierten Firmen für Kinderwagen, weil sie in einem sehr geringen Umfang hergestellt wurden und eine aufwendige Modesache waren. Ab und zu hat jemand einen Kinderwagen bestellt und an der Produktion haben sich mehrere Handwerker beteiligt: Ein Schmied hat das Fahrgestell angefertigt, ein Wagner die Räder, ein Korbflechter den Wagenkasten und so weiter. Na aber dann in der Hälfte des 19. Jahrhunderts kamen die Kinderwagen in Mode und man stellte fest, dass sie eigentlich sehr praktisch sind. Auch Straßen wurden diesem Zweck angepasst, denn es ist nicht einfach, einen Kinderwagen auf schlechtem Terrain zu schieben. Dies geschah aber überwiegend in den Städten. Auf dem Lande setzten sich Kinderwagen sehr langsam durch. Dort hielt sich sehr lange die Tradition, dass die Kinder in einem Tuch auf dem Rücken getragen wurden bzw. in verschiedenen Wagen gefahren wurden, die man auf dem Feld nutzte. Erst am Anfang des 20. Jahrhunderts, etwa in den 20er Jahren, gelangten Kinderwagen auch auf das Dorf. Wieder zunächst in reichere Familien und erst vor dem Zweiten Weltkrieg fanden sie allgemeine Verbreitung."


Das Schloss  (Foto: Miloš Turek)
Soweit, liebe Hörerinnen und Hörer, unser Besuch im Regionalmuseum in Melnik. Von dem dortigen Weinbau haben wir schon viel erzählt und so wollen wir uns dieser Spezialität von Melnik heute nicht widmen. Stattdessen möchten wir lieber einen kleinen Bummel durch die Stadt machen und uns dort umsehen. Was würde uns Nadezda Cerna empfehlen?

"Wenn man nach Melnik kommt, sollte man sich den historischen Teil der Stadt nicht entgehen lassen, der sicher sehenswert ist. Ich würde jedenfalls die Dominante Melniks empfehlen, und zwar das Schloss und die daneben stehende Propstkirche des hl. Peter und Paul. Man kann sich wundern, wenn man näher kommt und feststellt, dass das Schloss und die Kirche keinen einheitlichen Gebäudekomplex bilden. Viele Leute sind dadurch überrascht, denn beim Anblick von der Ferne sieht das so aus."

Das Schloss von Melnik hat eine reiche Geschichte, weil Melnik eine königliche Stadt und im Besitz böhmischer Königinnen war. Auf dem Schloss saß u.a. Eliska Premyslovna, die Mutter Karls IV., oder Barbara, die Gattin Siegmunds. Und auch Johanna von Rozmital, die Frau Georgs von Podiebrad, die in Melnik, in der St. Peter- und Paulkirche auch bestattet wurde. Das Schloss verdient sicher eine Besichtigung, Frau Cerna hat aber noch eine Empfehlung:

"Jeden Besucher wird sicher eine Besonderheit Melniks locken, und zwar das Beinhaus. Es war eigentlich Bestandteil eines Friedhofs bei der St. Peters- und Paulskirche. Die Gestalt, die der heutige Besucher sehen kann - im Beinhaus sind 10 bis 15 Tausend Knochen versammelt - hat ihm während des Ersten Weltkriegs Jindrich Matejka, der Begründer der tschechischen Anthropologie und Rektor der Karlsuniversität verliehen. Er wurde selbst in Melnik bestattet."

Unseren Stadtbesuch beenden wir auf dem Stadtring. Eine Besichtigung wert sind schöne Häuser mit Lauben, wie etwa das Haus zum Blauen Stern oder das Haus zum Goldenen Stern. Sie stehen auf gotischen Grundlagen, erlebten seit der Gotik aber natürlich mehrere Umbauten. Die meisten haben heute ein barockes Aussehen, bergen aber ein gotisches Geheimnis in sich:

"Eine Rarität Melniks ist seine Unterwelt. Jedes dieser Häuser war unterkellert, hatte mehrere Kelleretagen, die nicht nur als Lager, sondern auch als Zufluchtsort in schweren Zeiten dienten. Alle diese Keller waren ursprünglich miteinander verbunden und man konnte sie begehen. Heute sind sie zum Teil verschüttet, aber es gibt ein paar Möglichkeiten, Einblick zu nehmen. Eine davon bietet sich in unserem Regionalmuseum. Ein Teil der neuen Ausstellung, die dem Weinbau gewidmet ist, ist gerade in den Kellerräumen untergebracht."

Ja, liebe Hörerinnen und Hörer, wir sind also noch einmal ins Museum zurückgekehrt, in dem wir unseren Besuch in Melnik eröffnet haben. Dies ist aber für heute schon alles von uns. Ich danke Frau Nadezda Cerna, die über die Kinderwagentradition und Sehenswürdigkeiten in dieser Stadt am Zusammenfluss der Elbe und der Moldau erzählt hat, und wünsche Ihnen noch ein schönes Wochenende.

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