35 Jahre danach: Die Invasion des Warschauer Pakts vor tschechischen Gerichten

August 1968 auf dem Wenzelspaltz in Prag (Foto: CTK)

Fünfunddreißig Jahre nach dem Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen in der Tschechoslowakei und der Niederschlagung des Prager Frühlings wollen wir nun einen Blick auf die rechtlichen Aspekte werfen, die die damaligen Ereignisse heute noch haben. Hören Sie dazu den folgenden Schauplatz von Gerald Schubert:

August 1968 auf dem Wenzelspaltz in Prag  (Foto: CTK)
Der 21. August 1968, der Tag also, an dem Truppen aus fünf Staaten des Warschauer Pakts in die ehemalige Tschechoslowakei einmarschierten und der - auch von der damaligen Regierung mitgetragenen - Reformbewegung "Prager Frühling" ein jähes Ende bereiteten, dieser Tag hat bis heute tiefe Wunden hinterlassen. Das ist, blickt man auf den größeren historischen Zusammenhang, auch keineswegs verwunderlich: Erst 23 Jahre vorher hatte man die nationalsozialistische Gewaltherrschaft abgeschüttelt. Die nach dem Krieg herrschende, jedoch nur kurz währende Hoffnung auf eine stabile Demokratie wurde mit der kommunistischen Machtergreifung im Jahr 1948 sehr schnell wieder begraben. Der Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen begrub dann 1968 abermals eine Hoffnung: Jene nämlich, die aus den Reformbewegungen der sechziger Jahre und dem Streben nach einem "Sozialismus mit menschlichem Antlitz" hervorgegangen waren.

Danach mussten die Tschechen und Slowaken bekanntlich weitere 21 Jahre warten, bis die Samtene Revolution des Jahres 1989 im Zuge der Umwälzungen in ganz Osteuropa das kommunistische Regime schließlich hinwegfegte. Der August 1968 liegt also, chronologisch gesehen, ziemlich in der Mitte der kommunistischen Eiszeit, und stellt unter all dem, was man hierzulande meist mit Unterdrückung und Fremdbestimmung assoziiert, gewissermaßen einen symbolischen Höhepunkt dar. In der Literatur, in der Fotographie, in der Filmkunst, nicht zuletzt freilich in der Wissenschaft: Immer wieder ist versucht worden, die traumatischen Erfahrungen des 21. August auf verschiedenste Weise zu verarbeiten.

August 1968 auf dem Wenzelspaltz in Prag
Ein Bereich jedoch, in dem dies nicht so recht funktionieren will, ist der Bereich der Rechtssprechung. Zwei Prozesse, die im Zusammenhang mit der Okkupation des Jahres 1968 während der letzten zwölf Monate geführt wurden, zeigen recht exemplarisch jene Probleme auf, die bei der juristischen Abhandlung gesellschaftlicher und historischer Traumata entstehen können. Wir kommen gleich auf jene beiden Prozesse zurück, wollen uns aber zunächst eine allgemeinere Frage stellen. Nämlich: Wie groß ist eigentlich der Bedarf, den die tschechische Öffentlichkeit heute nach der juristischen Klärung kommunistischer Verbrechen hat? In welchem Verhältnis stehen Aufarbeitung und Verdrängung in der tschechischen Gesellschaft? Jan Bures, Politologe an der Karlsuniversität Prag, meint dazu:

"Ich glaube, dass der Bedarf, kommunistische Verbrecher zu verurteilen und zu bestrafen, gleich nach dem November 1989 am größten war. Also zu einer Zeit, als die Menschen noch daran glaubten, dass es auch tatsächlich dazu kommen wird. Dass dies dann aber nicht passiert ist und dass diese Dinge immer wieder verschoben oder nicht behandelt wurden, das war für die Öffentlichkeit natürlich eine ziemlich große Enttäuschung. In der Öffentlichkeit verbreitet sich das Gefühl, dass es sich dabei um irgendeine Abmachung zwischen dem gleich nach der Wende gegründeten Bürgerforum und den Kommunisten handelt. Eine Abmachung, die im November 1989 bei der Übergabe der Macht getroffen wurde. Beweise dafür existieren zwar nicht, nichtsdestoweniger stimmt es aber, dass diese Prozesse nicht stattgefunden haben, oder, wenn sie stattgefunden haben, mit sehr niedrigen Strafen endeten."

August 1968 auf dem Wenzelspaltz in Prag
Die Menschen also, die zunächst auf eine rasche Behandlung dieser Fälle gehofft hatten, wurden enttäuscht, der Slogan der Samtenen Revolution, man sei nicht wie "sie" - also wie die verhassten Bürokraten - und man sinne nicht auf Rache, verkehrte sich bei vielen in der Verdacht auf dunkle Machenschaften. Mittlerweile jedoch sind 14 Jahre vergangen, während derer andere, aktuellere Probleme die Menschen beschäftigen. Dass sich im Hinblick auf diese Prozesse also auch bereits eine gewisse Lethargie breit macht, ist nicht ganz von der Hand zu weisen.


Kommen wir nun also zu den zwei Gerichtsverhandlungen, die in den letzten Monaten mit der Niederschlagung des Prager Frühlings im Zusammenhang standen. Die eine wurde gleich gegen zwei frühere hohe Funktionäre geführt: Der ehemalige Generalsekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei, Milous Jakes, und der ehemalige Vorsitzende der Tschechoslowakischen Regierung, Jozef Lenart, standen wegen des Vorwurfs der Beihilfe zum Vaterlandsverrat vor einem Prager Gericht. Rekapitulieren wir kurz die wichtigsten Fakten: Der Staatsanwalt hatte in seiner Anklage behauptet, die beiden hätten im August 1968 die Okkupation der Tschechoslowakei in verfassungswidriger Weise unterstützt. Konkret ging man davon aus, dass sie damals in der sowjetischen Botschaft in Prag an Verhandlungen über die Bildung einer sogenannten Arbeiter- und Bauernregierung teilgenommen hätten. Diese sollte den Einmarsch fremder Truppen auf tschechoslowakisches Gebiet legalisieren.

Das Urteil lautete im September vorigen Jahres jedoch auf Freispruch. Die Richterin kam zu dem Schluss, dass hier kein strafbarer Tatbestand vorliege:

"Angesichts dessen, dass das Vorgehen der Angeklagten nach dem Gesetz beurteilt werden muss, das zum Zeitpunkt der Tat gültig war, kam das Gericht zu dem Schluss, dass der Tatbestand des Sturzes der Republik durch das Verhalten der Angeklagten nicht erfüllt wird. Und zwar im Hinblick darauf, dass das grundlegende Anzeichen eines solchen Tatbestandes der Versuch des Sturzes des sozialistischen Systems wäre."

Außerdem gibt es gerade bei Prozessen, die Jahrzehnte zurückliegende Fälle behandeln, natürlich noch ein ganz anderes schwerwiegendes Problem: Nämlich, dass viele der damals Beteiligten bereits verstorben sind. Jan Srb vom Amt für Dokumentation und Untersuchung der Verbrechen des Kommunismus lässt dies jedoch gerade im Fall Jakes und Lenart nicht unbedingt als Argument gelten.

"Die meisten der direkt Beteiligten, der Zeugen oder der potentiellen Angeklagten leben nicht mehr, oder sind keine Staatsangehörigen dieser Republik. Also es stimmt schon, dass teilweise ein Beweisnotstand bestehen könnte. Aber dennoch gab es genügend Material, das wir zusammentragen konnten."

Im Juni dieses Jahres jedoch wurde der Freispruch für Jakes und Lenart vom Oberen Gericht definitiv bestätigt.


Ein anderer Fall, der ebenfalls im Juni zu einem - allerdings nur vorläufigen - Abschluss kam, ist der des heute 79-jährigen Karel Hoffmann. Hoffmann habe, so die Staatsanwaltschaft, im August 1968 als damaliger Direktor der Zentralen Kommunikationsverwaltung den Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen aktiv unterstützt. Der konkrete Vorwurf: Hoffmann habe in der schicksalhaften Nacht zum 21.8. angeordnet, die Sendeanlagen des Tschechoslowakischen Rundfunks abzustellen. Jene "Funkstille" hätte garantieren sollen, dass die erste Radiomeldung über die dramatischen Ereignisse erst später über den Äther geschickt wurde - und zwar bereits von jenen Kräften in der Partei, die mit den Sowjets kollaborierten und den Einmarsch im Nachhinein rechtfertigten.

Zum Vaterlandsverrat gehört allerdings auch eine aktive Zusammenarbeit mit den fremden Armeen oder ihrer politischen Führung. Und die konnte man Hoffmann nicht nachweisen. Daher gab es in diesem Punkt, der ein Strafmaß von bis zu 15 Jahren vorsehen würde, einen Freispruch. Hoffmann in einer ersten Reaktion:

"Für positiv und entscheidend halte ich, dass das, was hier im Laufe von Jahren behauptet wurde, nun durch das Gericht wiederlegt ist. Nämlich, dass ich des Hochverrates schuldig bin. Ich meine, das Gericht hat nun gezeigt, dass das eine Lüge war. Eine zweckgerichtete Lüge."

Dass man Hoffmann keine direkte Kooperation mit den Invasionstruppen vorwerfen konnte bedeutet jedoch nicht, dass er von jeder Schuld freigesprochen wurde. Das Gericht sah es nämlich als erwiesen an, dass er mit seiner Anordnung die Verlautbarungen des zu diesem Zeitpunkt noch legitimen und von den Reformkräften des "Prager Frühlings" dominierten Vorstandes der Kommunistischen Partei unterdrücken wollte. Urteil: Vier Jahre unbedingte Haft wegen Missbrauchs der Amtsgewalt. Hoffmann legte sofort Berufung ein, die Causa wird also weitergehen.


Vielleicht haben die genannten Beispiele ein wenig von den formalen und rechtlichen Schwierigkeiten aufgezeigt, von denen derlei Prozesse begleitet sind. Wenn hier dennoch, wie dies auch für große Teile der tschechischen Gesellschaft selbst der Fall ist, ein übler Nachgeschmack von unbewältigter Vergangenheit bleibt, dann muss man wohl abschließend auf eines hinweisen: Vierzehn Jahre sind, verglichen mit dem von Katastrophen gezeichneten 20. Jahrhundert, eine recht kurze Zeit. Ein Blick auf die in Deutschland oder Österreich immer noch laufenden Diskussionen über die eigene Vergangenheit können das bestätigen. Die Frage ob man hier ein "leider" oder ein "glücklicherweise" an das Ende setzen soll, die stellt sich eigentlich nicht. Wir haben es mit einer gesellschaftlichen Notwendigkeit zu tun.