Das tschechische Mediensystem: Über Nachrichten und Identitäten

Zdenek Lokaj

Unsere Sendereihe "Im Spiegel der Medien" wollen wir heute einigen grundlegenden Aspekten des tschechischen Mediensystems widmen. In einem Interview mit Zdenek Lokaj hat Daniel Satra nach den Regeln der tschechischen Nachrichtenmache, nach der Rolle der beteiligten Akteure und nach der Bedeutung der nationalen Identität in der Berichterstattung gefragt. Zdenek Lokaj ist Medienwissenschaftler an der Prager Fakultät für Sozialwissenschaften. Der 30-Jährige arbeitet zudem als Medienberater.

Herr Lokaj, in was für einer Mediengesellschaft leben wir in Tschechien eigentlich? Wie lässt sich die Medienlandschaft hierzulande beschreiben, wie hat sie sich entwickelt?

"In Tschechien besteht gegenwärtig ein so genanntes libertäres Mediensystem, in dem Medien die große Möglichkeit haben, zu entscheiden was sie sagen wollen und wann sie es sagen wollen. Tschechien kennt aber auch eine andere Ordnung, nämlich das sowjetische Mediensystem, das hier bis 1989 gewaltet hat. Innerhalb dieses Systems haben Medien den marxistischen Vorstellungen einer Gesellschaftsordnung gehorcht. Wir können aber auch noch weiter in die Geschichte zurückgreifen. In der ersten Tschechoslowakischen Republik nach dem ersten Weltkrieg waren die Medien hierzulande politisch nach Parteizugehörigkeit orientiert. Und noch früher in der Geschichte waren die Medien Grundlage für das tschechische 'nation building'."

Können Sie uns erklären, welchen Platz die Medien in der Gesellschaft einnehmen, welchen Einflüssen sie trotz der vermeintlich freien Auswahlmöglichkeiten in einer Demokratie wie Tschechien unterliegen?

"Wir müssen uns klar machen, dass Medien ein Bestandteil der Gesellschaft sind, sie stehen nicht außerhalb der Gesellschaft, sondern in ihr. Daher interagieren Medien auch mit den einzelnen Teilen der Gesellschaft. Die Medien beeinflussen die Gesellschaft, und die Gesellschaft beeinflusst die Medien. Die Gesellschaft beziehungsweise einzelne Bestandteile von ihr üben auch Druck auf die Medien aus. Zum Beispiel Politiker, aber Medien müssen sich auch an Gesetze halten, an moralische Normen. Zudem unterliegen Medien wirtschaftlichem Druck durch Anzeigenkunden oder durch die Konkurrenz, durch Eigentümer, Investoren. Und all diese versuchen auch die Inhalte zu beeinflussen."

Lassen sich neben solchen externen Einflussnahmen durch Anzeigenkunden, durch die Konkurrenz am Markt auch interne Aspekte der Beeinflussung beobachten?

"Medien sind moderne Unternehmen mit einer hierarchisierten Struktur. Eine Struktur, die im Grundsatz totalitär ist, denn jeder Redakteur hat seinen Vorgesetzten, außerdem reden beim Programm Mitarbeiter aus der Anzeigenabteilung und aus dem Management mit. Und was wichtig ist: Jedes Medium hat seine eigene Kommunikationsstrategie, es hat eigene Ziele, die es verfolgt, zum Beispiel Geld zu verdienen oder die öffentliche Meinung zu beeinflussen."

Zusammengefasst und ein wenig provokativ lässt sich also sagen, dass Berichterstattung wenig mit Objektivität zu tun hat. Was glauben Sie?

"Ich denke, wenn man über Objektivität reden will, muss man sich die Art und Weise der Informationsverarbeitung innerhalb der Medien anschauen. Sie als Redakteur wissen, dass Berichterstatter Informationen aus einem großen Angebot von Ereignissen auswählen müssen. Wenn jetzt ausgesucht wird, dann müssen diese ausgesuchten Ereignisse in Nachrichten umgewandelt werden. Was passiert also: Einige Ereignisse werden wichtiger bewertet, andere weniger wichtig, und wieder andere gelangen überhaupt nicht über die Wahrnehmungsschwelle. Der Redakteur wählt dann aus den ausgesuchten Ereignissen nur die allerwichtigsten Informationen aus, und noch dazu: Er verändert ihre Struktur. Denn: Eine Nachricht benötigt einen Anfang, einen Mittelteil und einen Schluss. Ereignisse hingegen verlaufen oft kontinuierlich, ohne Ende."

Zurück zu der Frage nach Objektivität. Wie kommt es, dass die Berichterstattung vieler Medien trotz dieser Einschränkungen durch die gängigen Auswahlverfahren das Emblem "objektiv" erhalten?

"Im Verlauf ihrer Existenz haben Medien eine ganze Reihe von Regeln und Mechanismen entwickelt, um eine so genannte Objektivität und Unabhängigkeit zu erreichen. Es gibt wohl vor allem zwei Gründe für diese Entwicklung: Erstens um dem gesellschaftlichen Druck nicht zu unterliegen, aber zweitens auch, damit das Medienprodukt, die Nachricht für die größtmögliche Menge von Lesern und Hörern zugänglich gemacht werden kann. Zum Beispiel die britische BBC, die peinlich genau die Regeln der Objektivität einhält. Aber ist die BBC deshalb objektiver als andere Medien? Ich würde sagen, dieser Sender schafft ein universelles Produkt, das dann ganz einfach weltweit verkauft werden kann."

Nun gibt es ja nicht nur private oder öffentlich-rechtliche Berichterstatter, sondern eine Reihe weiterer Akteure in unserer so genannten Informationsgesellschaft. Was ist mit ihnen?

"Ähnlich arbeiten diejenigen mit Informationen, die auf der so genannten 'anderen Seite' stehen, also die Pressesprecher, die Berater, die Agenturen: Ihr Ziel ist es die Kontrolle über den Informationsfluss zu behalten, also die Informationen zu filtern und ihnen den richtigen Anschnitt zu geben - im Englischen ist das 'Spin'. Davon leitet sich auch 'Spin doctor' ab, derjenige also, der Informationen einen Anschnitt mit gibt. Das kann auch so weit gehen, dass gar keine Informationen mehr weiter gegeben werden. Oder dass unter bestimmten Bedingungen die Inhalte der Berichterstattung kontrolliert werden, also eine Zensur eingeführt wird."

Also zum Beispiel in Kriegen.

"Richtig. Eine Zensur ist zum Beispiel gängig im Kriegsfall, das konnten wir im Irak und bei anderen Kriegen beobachten. Und in bestimmten Fällen, denke ich, ist eine Zensur auch berechtigt."

Einer Zensur Berechtigung erteilen? Das sollten Sie näher erläutern. Haben Sie ein Beispiel.

"Zum Beispiel wenn es jemandem ans Leben geht. Das ließ sich beobachten, als vor kurzem die drei tschechischen Journalisten im Irak entführt wurden. Die Medien hatten faktisch keine Informationen darüber zur Verfügung. Oder mit Informationen wurde sehr vorsichtig und bewusst umgegangen, Ich denke, dass dies auch ein Grund war, der zu ihrer Freilassung beigetragen hat."

Zurück zur Nachricht und zu den beteiligten Akteuren im Mediensystem. Sie sagen nicht der Berichterstatter allein ist für die Bedeutung der Nachricht verantwortlich.

"Ich würde auch nach der Rolle des Hörers, des Lesers oder Zuschauers im Mediensystem fragen. Dieser muss die Mitteilung der Nachricht überhaupt erstmal verstehen, er muss sie dekodieren. Wie dieses Verstehen zu Stande kommt hängt einerseits von der Mitteilung selbst ab, davon also wie klar und prägnant die Mitteilung ist. Aber das Verstehen hängt auch davon ab, aus welchem Kontext der Empfänger der Mitteilung stammt. Ein Amerikaner versteht dieselbe Nachricht anders als ein Araber, und auch als ein Tscheche."

Können Sie uns dafür ein Beispiel nennen?

"Wenn man sich zum Beispiel die Website des arabischen Fernsehsenders Al-Dschasira auf Arabisch oder auf Englisch anschaut, werden dort die gleichen Informationen mit einem anderen 'Spin' vermittelt. Denn: Der Selbstmordattentäter ist in der englischen Ausgabe ein 'Terrorist', in der arabischen Version wird er hingegen als 'Märtyrer' bezeichnet."

Aus dieser Sicht lässt sich also sagen, dass neben dem Berichterstatter und dem Empfänger auch der kulturelle Kontext oder die nationale Identität eine wichtige Rolle übernehmen. Ist das auch der Grund, warum Tschechien eigene Kriegberichterstatter in den Irak geschickt hat?

"Ein Tscheche begreift eine Nachricht von einem tschechischen Berichterstatter besser. Ein Deutscher wiederum versteht eine Nachricht von einem deutschen Berichterstatter besser. Denn: Können Sie sich vorstellen, dass ein amerikanischer Reporter Arabern am Bildschirm erklärt, was dort im Irak passiert ist? Selbst wenn er fehlerlos die Regeln der Objektivität einhalten würde, wie alle anderen, wäre dennoch das Ergebnis ein völlig anderes. Denn warum sonst sollte zum Beispiel der Tschechische Rundfunk in deutscher Sprache senden. Mindestens deshalb, um die Auswahl der Inhalte zu beeinflussen, wie schon anfangs gesagt."

Sie hörten ein Interview mit Zdenek Lokaj, Medienwissenschaftler an der Prager Fakultät für Sozialwissenschaften.