Der ungekrönte König der Prager Boheme - vor 60 Jahren starb Paul Leppin

Paul Leppin
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Er galt als der letzte Troubadour des alten Prag: vor 60 Jahren starb der Prager deutsche Dichter Paul Leppin. Thomas Kirschner erinnert an den Hüter einer untergegangenen Zeit.

Frühling um 1900 - das Jahrhundert ist jung, es herrscht Aufbruchsstimmung. Die jungen Prager Literaten sammeln sich, um dem konservativ-epigonalen Kulturleben etwas Eigenes entgegenzusetzen. Ihr unbestrittener Anführer ist Paul Leppin. Von auffallender Gestalt, groß und hager, mit breitkrempigen Hut und bunter Künstlerkrawatte, greift der 1878 geborene Leppin das Leben, wo er es findet - in den nächtlichen Gassen der Stadt, in verrufenen Spelunken, aber auch in den Bordellen, die sich in der verkommenen ehemaligen Judenstadt aneinander drängten. Der Literaturwissenschaftler Dierk Hoffmann von der New Yorker Colgate University befasst sich seit mehr als zwanzig Jahren mit dem ansonsten wenig beachteten Autor:

"Paul Leppin war eine faszinierende Gestalt. Wenn man bei Max Brod und Anderen liest, wie sie ihn beschreiben, wie sie über den Prager Graben zogen, wie sie abends Lieder sangen - er faszinierte die anderen Leute. Und ich glaube, er war so etwas wie die Hefe des Jung-Prager Kreises."

Mit seinen frechen Strophen und bissigen Bänkelliedern stieß Leppin das Prager Bürgertum vor den Kopf. Während Leppin tagsüber selbst als Postbeamter einem bürgerlichen Brotberuf nachgehen musste, gehörten die Nächte in den Prager Kneipen seinem eigentlichen Leben.

"Ach, das Schweinefleisch wird teuer,

Und der Frühling ist gekommen

Und die Bürger haben heuer

Schon das erste Bad genommen.

Und die Menschen sind meschügge

Und die Hoffnung ist ihr Anker

Mancher wird beizeiten flügge

Mancher erst beim zweiten Schanker."

Leppins Lebensthema ist die Verlassenheit des Menschen, die vergebliche Suche nach dem Gegenüber und nach der Erfüllung in der Liebe. Seine Geschichten sind bevölkert von Verstoßenen und am Leben Gescheiterten, die Leppin mit großem Mitgefühl zeichnet.

"Und diese Idee des Mitmenschlichen klingt wirklich durch Leppins ganzes Werk. Das ist ihm mit das Wichtigste: den anderen Menschen zu verstehen - auch die, die Außenseiter der Gesellschaft sind. Deshalb seine Hinwendung zur Prostitution, zu den Huren, die er etwas verklärt. Und das wird ja dann auch angegriffen."

In Prag wird Paul Leppin als Pornograph und Schundliterat geächtet. Gegen die konservative Etabliertheit kommt die Generation des jungen Prag nicht an, Leppins Mitstreiter verlassen die Stadt, unter ihnen der Frühexpressionist Victor Hadwiger und der junge Rainer Maria Rilke; Leppin selbst fällt in die Vereinzelung. Trotz zahlreicher Publikationen - der Durchbruch bleibt ihm lebenslang versagt. Mit zunehmendem Alter widmet er sich mehr und mehr der melancholischen Retrospektive, flieht in das verzauberte Prag seiner Jugend.

"Frühling um neunzehnhundert! Unwiederbringliche Zeit!

Du hattest für gläubige Menschen heimliche Wunder bereit -

Wandernde Wolkenkähne glitten froh durch den Tag

Schwammen lenzlich bewimpelt über dem Goldenen Prag

Frühling um neunzehnhundert! Sei uns noch einmal geschenkt!

Wir sind so arm und von trüben Nachtgespenstern bedrängt -

Wir brauchen das Licht des Lebens, das erlöserisch rinnt,

Weil wir Gestürzte, Verfemte am Saume der Finsternis sind."

Die Geschichte des 23jährigen Severin ist zu einem guten Teil Leppins eigene Geschichte. Seine Tage verbringt Severin stumpf im Büro, um abends Zuflucht in den stillen Gassen Prags oder in dem taumelnden Leben der Vergnügungsetablissements zu suchen.

"Wenn Severin des Nachmittags, von quälender Büroarbeit zerrüttet, nach Hause kam, warf er sich auf das schwarzlederne Sofa in seiner Kammer und schlief bis zum Abend. Erst wenn draußen die Laternen angezündet waren, ging er auf die Gasse. Nur im Sommer, wenn die Tage lang und glühend waren, fand er noch Sonne auf seinen Wegen durch die Stadt. Oder auch an den Sonntagen, wo der ganze Tag ihm gehörte und er auf seinen Wanderungen seiner kurzen Studentenzeit gedachte.

Am liebsten waren ihm die Straßen, die abseits von dem großen Getriebe lagen. Wenn er die Augen zusammenkniff, bekamen die Häuser ein phantastisches Aussehen. Dann ging er an den Mauern der großen Gärten vorbei, die sich an die Krankenhäuser und Institute schlossen. Der Geruch des faulenden Laubes und der feuchten Erde schlug ihm entgegen. Irgendwo in der Nähe wusste er eine Kirche. Hier war es schon am frühen Abend leer und nur einige Fußgänger kamen. Severin stand im Schatten der Häuservorsprünge und dachte darüber nach, warum sein Herz klopfe."

"Prag spielt überall eine sehr wichtige Rolle - sowohl die Atmosphäre des magischen Prag, die bei ihm anklingt, wie auch einzelne konkrete Orte. Auch in seinen späteren Romanen wie `Severins Gang in die Finsternis` von 1914 kann man genau die verschiedenen Orte feststellen, die Leppin mit seinen Figuren durchwandert - vom Vysehrad bis zur Innenstadt. Und sein ganzes Werk ist durchwoben von Prag. Deshalb wird er ja oft als ´Troubadour des alten Prag´ gefeiert, etwa von Max Brod, der ihn so bezeichnete",

erläutert nochmals der Literaturwissenschaftler Dierk Hoffmann. Mit dem um sechs Jahre jüngeren Max Brod, dem engen Freund Franz Kafkas, war Paul Leppin gut bekannt. Für Brod, den Chronisten der Prager deutschen Literatur, war Leppin "der eigentlich erwählte Sänger des schmerzlich verlöschenden Alt-Prag, der verrufenen Gässchen, der durchzechten Nächte, der Vagabunden und der vergeblichen Gläubigkeit vor prunkvoll-barocken Heiligenfiguren."

In der deutschen Literatur aus der Tschechoslowakei nimmt der Katholik Paul Leppin eine besondere Stellung ein - er war einer der wenigen Nicht-Juden aus Böhmen, die der Literatur der Moderne zuzuordnen sind, während sonst unter den deutsch-böhmischen Schriftstellern nationalistisches, antitschechisches und auch antisemitisches Gedankengut immer mehr Raum gewann. Leppin wurde daher häufig für einen Juden gehalten - teils irrtümlich, teils bewusst diffamierend, erläutert Dierk Hoffmann von der Colgate University.

"In verschiedenen Nachschlagewerken der Zeit wurde er als Jude geführt. Erst in späteren Ausgaben wurde das berichtigt. Und bei den Kritikern, die seine Werke verrissen haben, klingt oft an, dass sie ihn als Juden sehen wollten und wohl auch als Juden sahen."

In der gespannten, scharf abgegrenzten Atmosphäre des trinationalen Prag hat sich Paul Leppin Zeit seines Lebens für eine Verständigung, für das Durchbrechen der Grenzen zwischen den Nationalitäten eingesetzt.

"Er war wirklich der Mittler, der durch sein eigenes Beispiel, sowohl als Dichter, wie auch als Bürger und Mensch zeigte, dass die verschiedenen Nationalitäten, Religionen und Gruppierungen zusammen - nicht nebeneinander, sondern wirklich zusammen - leben konnten."

Paul Leppins letzte Lebensjahre sind von Krankheit gezeichnet. Er litt an den Folgen einer Syphilis, die er sich in seiner Zeit als Bohemien zugezogen hatte. Bereits schwerkrank, musste er für seine Überzeugungen noch kurzzeitig in Gestapo-Haft: Als Sekretär des Schutzverbandes deutscher Schriftsteller in der Tschechoslowakei hatte er sich geweigert, die nichtarischen Mitglieder auszuschließen.

Vor genau 60 Jahren, am 10. April 1945, stirbt Paul Leppin nach zwei Schlaganfällen im Alter von 67 Jahren. Sein Lebensbekenntnis hatte er wenige Jahre zuvor auf einem Albumblatt niedergeschrieben:

Ich stand auf einsamen Borden,

Das Meer war ein Märchen von Gold -

Ich habe den schmerzlichsten Orden,

Das Großkreuz der Liebe gewollt.


Von Paul Leppin sind im Buchhandel derzeit der Roman "Severins Gang in die Finsternis" und der Sammelband "Prager Rhapsodie" erhältlich, beide erschienen im Prager Vitalis-Verlag. Leppins wohl umstrittensten und einflussreichsten Roman "Daniel Jesus" führt seit 2001 der Berliner Elfenbein-Verlag wieder im Progamm. Und den ersten Band einer lang erwarteten Gesamtausgabe von Leppins Werken hat der Schweizer SSI-Verlag für den Herbst angekündigt. Mehr zu Paul Leppin unter www.paul-leppin.net.