Nicht genehmigt! 300 Jahre Zensur in den böhmischen Ländern

Foto: Verlag Academia

Zensur wird im allgemeinen Bewusstsein vor allem mit den totalitären Regimes des letzten Jahrhunderts verbunden. Doch das Phänomen ist wesentlich älter. Unter dem Titel „V obecném zájmu“ (Im Interesse der Allgemeinheit) wurde kürzlich die erste wissenschaftliche Publikation über Zensur und soziale Regulierung der Literatur und Kultur in den böhmischen Ländern herausgegeben. Das zweibändige Werk hat beinahe 1700 Seiten. Es stellt verschiedene Formen der Zensur dar – von der Aufklärung bis in die vom Internet geprägte Gegenwart. Michael Wögerbauer und Petr Píša haben das Autorenteam geleitet. Sie forschen am Institut für tschechische Literatur der Akademie der Wissenschaften in Prag über Zensur.

Foto: Verlag Academia
Im Institut für die tschechische Literatur der tschechischen Akademie der Wissenschaften wird ein zweibändiges Buch über die Zensur in der Literatur und Kultur herausgegeben. Wie würden Sie das Phänomen der Zensur charakterisieren?

Wögerbauer: „Wir verstehen Zensur als ein eigentlich allgegenwärtiges Phänomen, mit dem eine Gesellschaft sich auf Grund eines gewissen Konsenses schützt vor Aussagen, vor Kommunikationen, vor Texten, die sie ablehnt. Das Ganze entsteht auf Grund einer Diskussion, die in einer Gesellschaft, meistens eher in den elitären Kreisen stattfindet. Wenn sich also eine Gesellschaft darauf geeinigt hat, dass gewisse Kommunikate nicht an die Öffentlichkeit gelangen sollen, dann kann es einerseits ein eigenes Institut, ein Zensuramt geben, das sich darum kümmert, dass diese Texte nicht in den Umlauf gelangen. Oder die Gesellschaft kann sich auch selbst regulieren. Ein Beispiel: Wenn die Eltern zu Kindern sagen, dass man etwas nicht sage, dann ist das eigentlich schon eine soziale Regulierung von Kommunikation, die wir auch in den Untertitel unseres Buchs aufgenommen haben.“

Petr Píša  (Foto: Archiv der Grüne Partei)
Zensur ist also nicht immer die Angelegenheit des Staates, der staatlichen Eingriffe?

Píša: „Es gab eine Epoche, in der die Zensur vor allem von der Kirche ausgeübt wurde: Sagen wir einmal bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts. Das ist eigentlich auch die Zeit, in der wir mit unserem Buch beginnen. Wir konzentrieren uns also eher auf die Zeit, in der der Staat als Hauptakteur der literarischen Zensur tätig war. Aber dann gibt es auch gesellschaftliche Gruppierungen, die ebenso eine Art soziale Regulierung oder Zensur ausüben. Dabei kann es sich um Kirchen, aber auch zum Beispiel um Parteien handeln oder die Nation an sich, die ihre jeweiligen Angehörigen dazu zwingt, etwas zu machen oder etwas nicht zu machen und nicht zu schreiben.“

Sie haben es schon erwähnt: Das Buch setzt in der Mitte des 18. Jahrhunderts an, in der Zeit der Aufklärung. Was passierte damals?

Michael Wögerbauer  (Foto: Vendula Trnková,  Archiv der Kurt Krolop Forschungsstelle für deutsch-böhmischen Literatur)
Wögerbauer: „Einerseits gibt es um die Mitte des 18. Jahrhunderts eine Anzahl von Reformen vor allem der Verwaltung, andererseits wird die staatlichen Zensur systematisiert. Und, was für uns noch äußerst wichtig ist, es handelt sich um die entscheidende Phase, in der Belletristik im heutigen Wortsinn entsteht und in der sich die Leserschaft entscheidend verbreitet. Der Leser ist nicht mehr rein elitär, sondern auch das Volk beginnt, zum Beispiel im Rahmen der allgemeinen Schulpflicht, zu lesen. Daher kümmert sich auch die Zensur besonders um die sogenannten unmündigen Leser, die etwas falsch verstehen könnten, die verwirrt sein könnten von verführerischen Lesestoffen. In diesem Sinn beginnt eben die staatliche Zensur als Erziehungsinstrument für das Volk zu arbeiten.“

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Wie sah die Zensurpraxis in den einzelnen Epochen aus?

Píša: „Das unterscheidet sich. Im Prinzip unterscheiden wir zwischen drei Stufen. Einerseits steht die sogenannte paternalistische Zensur. Sie operierte mit dem bereits erwähnten Begriff des unmündigen Lesers, der erzogen werden musste. Es bestand eine Vor-Zensur. Jede Schrift, die gedruckt werden sollte, musste diese Zensur passieren und eine Druckbewilligung erhalten. Jede Schrift, die diese Druckbewilligung nicht erhalten hat, war automatisch verboten. Das änderte sich im Jahr 1848. Ab dieser Zeit bis in die 1930er Jahren gab es die sogenannte Nach-Zensur. Diese liberale Zensur ist dadurch charakterisiert, dass nur bestimmte Texte verboten werden, und zwar erst nachdem sie gedruckt worden sind. Das geschieht auf der Basis von Gesetzen, zum Beispiel dem Strafgesetzbuch. Gerichte beurteilen jeweils, ob das Verbot verhängt werden soll oder nicht. Ende der 1930er Jahre änderte sich dies. Die Vor-Zensur wurde erneut eingeführt, was neue Drucke und Schriften betraf, zugleich war auch die nachträgliche Zensierung früherer Veröffentlichungen sehr wichtig. Bibliotheken wurden durchkämmt, und was der Vorstellung von der ‚guten Literatur‘ – oder später der ‚sozialistischen Literatur‘ – nicht entsprach, wurde aussortiert. Für diese Zeit – wir sprechen von den 1930er bis 1980er Jahren – war auch wichtig, dass die Zensur nicht von nur einem einzigen Amt ausgeübt wurde, sondern sich auf viele Akteure auf verschiedenen Ebenen verteilte. Auf jeder Ebene wurde eigentlich etwas zensiert, etwas reguliert. Und das Zensuramt an sich – es gab es in den 1950er und zu Beginn der 1960er Jahre – kontrollierte nur, ob alle anderen Ebenen ihre Arbeit gut machten.“

Zensur bestimmter Arten von Sexualität  (Foto: Offizielle Facebook-Seite des Buches „V obecném zájmu“)
Gibt es auch heute hierzulande eine Art Zensur?

Wögerbauer: „Ja. Im Prinzip befinden wir uns heute wieder in einer Phase dessen, was wir liberales Zensursystem nennen würden. Das hatte es auch in der Habsburger Monarchie ab den 1860er Jahren bis zum Ende der Ersten Republik im Jahr 1938 gegeben. Das heißt, nur auf Grund von klar formulierten Gesetzen und auf Grund von Anzeigen – wenn sich jemand über einen Text beschwert – kann die Staatsanwaltschaft einschreiten. Vor Gericht wird der betreffende Text entweder verteidigt, oder er wird eben verboten, weil er Persönlichkeitsrechte verletzt, weil er bestimmte Arten von Sexualität oder Rassismus propagiert, die von der Gesellschaft nicht als akzeptabel angesehen werden.“

Foto: Offizielle Facebook-Seite des Buches „V obecném zájmu“
Wie ist Ihr Buch konzipiert? Es sind zwei Dicke Bände, was findet man darin?

Wögerbauer: „Man findet darin einerseits eine Einleitung, in der wir erklären, wie das Buch konzipiert ist, andererseits ist es aufgegliedert in acht Kapitel. Jedes Kapitel hat zunächst einen Überblicksteil, in dem erklärt wird, wie sich die Legislative und die Zensurpraxis in einem gewissen Zeitabschnitt verändern. In dieses Überblickskapitel hinein haben wir sogenannte Infoboxes gegeben. Das sind kleinere Geschichten, die anhand von Beispielen ein bisschen illustrieren, wie das in der Praxis funktioniert. Und in einem zweiten Teil hat jeder Abschnitt Fallstudien, in denen wir darauf eingehen, wie die nichtstaatliche Zensur funktioniert, wie Texte konkret sich verändern im Dialog mit Hindernissen.“

Haben Sie sich in Ihrer Forschung nur mit der tschechischen oder tschechischsprachigen Literatur befasst oder auch mit der deutschsprachigen Literatur in den böhmischen Ländern im 18. und im 19. Jahrhundert?

Foto: Offizielle Facebook-Seite des Buches „V obecném zájmu“
Wögerbauer: „Natürlich haben wir uns auch einerseits mit der deutschsprachigen Literatur befasst, andererseits spielt Wien als Zentrum der Habsburger Monarchie eine große Rolle. Aber zurück zur Literatur. Im 18. Jahrhundert gibt es Autoren, die man heute kaum mehr kennt, die aber in ihrer Zeit sehr bedeutend waren und an denen man sehr schön sehen kann, wie Texte zum Beispiel mit Zensur arbeiten, um für sich selbst Werbung zu machen. Zum Beispiel ein aus Deutschland stammender, aber in Prag ansässiger Autor Namens Albrecht hatte einen erotischen Roman geschrieben und bezeichnete sich dann in den Untertiteln seiner weiteren Romane immer als Autor dieses einen, verbotenen Romans. Das heißt, er nannte nicht seinen Namen, sondern er schrieb nur ‚vom Autor des verbotenen Romans‘. Und so funktionierte eben Zensur als Werbung, als Aushängeschild für den Autor und seine Werke.“

In Briefwechseln tschechischer Autoren des 19. Jahrhunderts lässt sich sehr oft über Zensur lesen, sie beschweren sich darüber. War die Lage der tschechischen und der deutschen Autoren hierzulande unterschiedlich? Spielte der nationale Aspekt eine Rolle in der Zensur?

Foto: Offizielle Facebook-Seite des Buches „V obecném zájmu“
Píša: „Das war eine große Frage bei unserer Forschung. Es hat sich ergeben, dass die tschechischen und die deutschsprachigen Autoren prinzipiell in der gleichen Lage waren, mit nur kleineren Ausnahmen und kleineren Nuancen. Die deutschsprachigen Autoren hatten weit bessere Möglichkeiten, im Ausland zu publizieren oder ins Ausland zu gehen. Und das war auch nicht selten der Fall, zum Beispiel in den 1840er Jahren. Für tschechische Autoren gestaltete sich dies natürlich anders. Sie konnten kaum im Ausland publizieren, weil es dort ganz einfach kein tschechischsprachiges Publikum gab. Eine andere Sache war, dass die Zensur in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Interesse des vermutlichen Lesers des Buches entschieden hat. Tschechisch galt zu dieser Zeit als Volkssprache, als eine Sprache für normale, nicht besonders gut gebildete, unmündige Leser. Und deswegen wurden die tschechischsprachigen Werke – auch wenn sie für gebildete Leser bestimmt waren – manchmal als populäre Werke eingestuft und ein bisschen strenger zensiert. Aber das sind, wie gesagt, eher Nuancen. Man kann nicht sagen, dass die Zensurbehörde bewusst antitschechisch war und dass sie die tschechische Literatur bewusst unterdrücken wollte.“

Foto: Offizielle Facebook-Seite des Buches „V obecném zájmu“
Gibt es Belege darüber, wie die Autoren mit der Zensur umgegangen sind? Haben sie Wege gesucht, sie zu umgehen?

Wögerbauer: „Es gibt einen anekdotischen Fall aus dem Protektorat Böhmen und Mähren, also unter nationalsozialistischer Besatzung. In der Zeitung České slovo wurde eine Kolumne mit sogenannten aktivistischen Gedichten veröffentlicht, das heißt Gedichten, in denen Tschechen eigentlich ihre pronationalsozialistische Gesinnung dartun sollten. Da kam es zu dem Fall, dass ein Gedicht eingeschickt wurde, das auf den ersten Blick genau diese Vorgaben erfüllte. Doch wenn man immer das erste Wort in vertikaler Richtung las, ergab es eine große und schwere Anklage gegenüber den nationalsozialistischen Besatzern. Den Redakteuren ist das nicht aufgefallen, und es kam dann im Nachhinein zu schweren Sanktionen, sowohl gegenüber der Zeitung als auch gegenüber den Redakteuren.“

Foto: Offizielle Facebook-Seite des Buches „V obecném zájmu“
Widmen Sie sich in dem Buch auch den Zensoren? Stellen Sie einige von ihnen vielleicht vor?

Píša: „Es gibt eine allgemeine Vorstellung, dass der Zensor dumm war, dass er sich von den Autoren immer überlisten ließ. Wir haben gezeigt, dass das in manchen oder sehr vielen Fällen nicht der Fall war. Die Zensoren waren gebildete Menschen mit akademischen Titeln, die zum Beispiel Professoren für Ästhetik oder für Literatur waren. Das waren also sehr kluge Menschen, die natürlich bestimmte literarische Präferenzen hatten, und diese Präferenzen spiegelten sich in ihrer zensorischen Tätigkeit wider. Wir haben an einigen Beispielen gezeigt, wie die jeweiligen Zensoren oder Zensorinnen konkret ausgebildet waren, welche Art von Schriften sie mochten und welche nicht. Anhand dessen konnten wir zeigen, wie genau diese individuellen ästhetischen Präferenzen die Zensur an sich beeinflusst haben.“