Melancholie, Gesellschaftskritik und absurder Humor: die Autorin Lilli Recht
Sie war ein Paradebeispiel des Typus der emanzipierten Frau der 1920er Jahre, sie hatte „exzentrische Angewohnheiten“, war „extravagant“ und „meschugge“. So wurde sie jedenfalls von ihren Jugendfreunden beschrieben. Ihr literarisches Werk zeichnet sich durch Distanz, Entpersönlichung, Kühle und Einsamkeit aus, sowie durch einen stechend scharfen, schmerzhaft pointierten Humor. Heute ist die deutschmährische Autorin Lilli Recht vergessen. Eine Spurensuche anlässlich ihres 115. Geburtstages.
Frau Fürst, eine Jugendfreundin aus Olmütz schreibt über Lilli Recht:
„Jedenfalls war sie ein Original, sehr gescheit, und sie besaß, außer, dass sie dichten konnte, ein sehr beachtliches Talent zu malen. Sie hat sehr hübsche Portraits gemalt. Gedichte hat sie schon in der Schule geschrieben. Da die Familie sehr reich war, ist sie sehr viel gereist: erst als Kind mit den Eltern an die Nord- und Ostsee, später an die französische Riviera. Ihre ganz große Liebe war immer Italien. Als sie einmal in Neapel war, hat eine Reisegesellschaft einen Ausflug nach Marokko gemacht. Lilli ist mitgefahren und kurzentschlossen einfach in Afrika geblieben, sie hat ein ganzes Jahr in Casablanca gelebt. Da ihre Mutter ihr von der Pension ganz wenig Geld schicken konnte, lebte sie hauptsächlich von Tomaten und Eiern.“
Diese Reiselust ist ein wiederkehrendes Thema in Lilli Rechts Texten. Aus der Zeit in Casablanca stammt wohl die Kurzgeschichte „Ich friere in Afrika“. Darin schreibt sie:
„Als ich ankam, riefen die Araber: ‚Madame, Madame!‘ – jetzt rufen sie nur noch Miss, so mager bin ich geworden. Mein bisschen Geld hat sich verspätet, und als es ankam, war der Scheck zahlbar in Paris und wanderte wieder zurück. Ich kenne keinen Menschen – seit Wochen habe ich kein Wort deutsch gesprochen, nur französische und spanische und arabische Brocken mit den Kellnern und dem Dienstpersonal. Jeden Nachmittag sitze ich im Café (dem einzigen Lokal, wo ich Kredit habe). Ich sitze allein und habe die Figuren am Schachbrett vor mir aufgestellt. Vielleicht kommt jemand und spielt mit mir. Aber niemand kommt, und so spiele ich mit mir, gegen mich eine Partie Schach. Ich wandere ein bisschen ins nahe Gebirge. Ich stehe oben in der Landschaft und sehe am Horizont das Atlasgebirge bläulich schimmern, ich sehe vor mir die Küste Spaniens, rechts das Mittelmeer und links den Ozean. Ein eisiger Wind bläst mich beinahe um, und seufzend ahne ich, dass bei uns jetzt der Flieder blüht.“
Diese Melancholie, die Einsamkeit, das Zerrissen-Sein zwischen Fernweh und Heimweh charakterisieren viele ihrer Texte. Deutlich wird das etwa auch in ihrem Gedicht „Zigeuner“, in dem sie ganz klar sich selbst beschreibt:
Ich meine nicht die Braungebrannten
Wegwärts im grünen Wagen.
Ich meine jene stets Verbannten,
Die ihre Sehnsucht durch die Länder tragen.
Die Liebe suchen und die vor ihr fliehen
Und immer irgendwo ihr Glück versäumen.
Ich meine die, – die alle Welt durchziehen
Und in der Ferne von der Heimat träumen.
„Die Zeitgenössinnen sagten über sie: Sie war keine Schönheit, aber umflattert von mehreren Männern war sie immer. Allerdings hat sie keine feste Bindung finden können oder keine gesucht, so dass sie nicht nur ledig geblieben ist, sondern überhaupt allein oder einsam, was auch die Stimmung ihrer Gedichte bestimmt.“
Eindrücklich beschreibt sie diese Einsamkeit in ihrem Gedicht „Allein“:
Draußen riecht es schon nach Sommer,
Kleine Kinder schrei’n,
Liebespaare geh’n vorüber
- Nur du bist allein.
Später holt dich ein Bekannter,
Küßt dir leicht die Hand
Und führt dich in seinem Wagen
Sicher über Land.
Er erzählt dir von Geschäften,
Sagt, daß er dich liebt,
Insoweit es heutzutage
Eben Liebe gibt.
Und verführt vom Duft der Wiesen,
Wald und Feld im Abendschein,
Sprichst du ihm von Deiner Sehnsucht,
Deinem Einsamsein.
Doch er meint, auf Seelenleben
Läge er nicht viel Gewicht
Und er säh’ im allgemeinen
Mehr auf Beine und Gesicht.
Und er hätte Glück bei Frauen,
„Weil er es versteht“,
Und du könntest ihm vertrauen.
Denn er sei diskret.
Doch du siehst längst aus dem Fenster
Starr und unverwandt,
Vögel zieh’n und bunte Blumen
Steh’n am Wegesrand.
– Eine Hand faßt heiß nach deiner.
– Wird das immer sein? –
Neben uns sitzt irgendeiner –
Und man ist allein.
„Der Typus ihrer dichterischen Einstellung ist jener, der damals in den 1920er Jahren vorherrschte, und das ist die Neue Sachlichkeit. Nicht mehr das Impressionistische, nur die Beschreibung, nicht mehr das Romantische, sondern vor allem eine Entpersönlichung, Entindividualisierung. Lilli Recht gebraucht selten oder gar nicht in den Gedichten die Position des Ich-Dichters, des Individuellen. Sie schreibt immer ‚wir‘, das heißt die Generation, oder ‚man‘, also die Welt als solche, die Menschen als solche, die Generation als solche. In der Poesie ist das Ich doch aber ausschlaggebend. Die Lyrik besteht auf Ich-Standpunkten, Ich-Erlebnissen. Und das bekämpft sie eben. Da ist offensichtlich auch der Wille, nicht nur lyrisch zu sein, sondern die Dinge sachlich zu beurteilen. Aber diese Vereinsamung, dieses Traurige, das ist freilich wieder individuell. Sie will nicht lyrisch sein, aber individuell bleibt sie.“
Der melancholische Ton der Gedichte korrespondiert allerdings nicht mit ihrem Auftreten. Ludvík Václavek zitiert Herrn Fürst, einen Zeitgenossen von Lilli Recht:
„Sie war in ihrem Auftreten heiter und ausgeglichen, und, das sagte auch er [Herr Fürst], der elegische Ton der Gedichte überrascht eigentlich. War das Leben nur eine Maske, oder war die Poesie eine Stilisierung? Jedenfalls sind hier zwei Seiten der Lebenseinstellung sichtbar.“Während ihre Gedichte melancholisch sind und trotz der Distanziertheit oft eine sehr blumige Sprache verwenden, dabei aber auf das Ich verzichten, sind die Prosatexte von Lilli Recht von journalistischer Sachlichkeit und pointiertem, beißenden Humor gekennzeichnet. Hier verwendet sie sehr wohl die Ich-Position.
In dem Text „Der tolle Hund“ wird die in ihrem Hotel schlecht angeschriebene Icherzählerin spät nachts von einem Hund gebissen und fürchtet Tollwut zu bekommen. Es bleibt ihr nichts übrig, als in ihr Zimmer zu gehen und auf den nächsten Morgen zu warten:
„Nein, es wurde keine gute Nacht. – Eher eine tolle Nacht. – Jeden Moment sprang ich aus dem Bett, befühlte meine Glieder, begoß mich mit Wasser, fühlte da und dort einen Schmerz, ein Stechen, ein Ziehen. – Wie beginnt Tollwut? – Ja, wie beginnt sie? Hätte ich es gewußt, ich wäre in dieser Nacht bestimmt toll geworden. So wurde es endlich morgen. Ich zog mich schon um sieben Uhr an und wartete auf das Erwachen des Hotels. – Dann klopfte ich oben bei meinem Freund, dem jungen Doktor und berichtete alles. – Nicht möglich – er war ehrlich entsetzt... man müsste eigentlich die Ärztekammer... Aber dann beschloss er, vorher mit dem Hoteldirektor über den Fall zu sprechen. Der Direktor empfing ihn überaus höflich. – Was gibt es, lieber Doktor, mit was kann ich Ihnen dienen? – Ja, die Sache ist die, begann mein Freund, die Kleine von Nummer siebzehn ist von einem Hund gebissen worden. Ah, die Dame von Nummer siebzehn, – der Direktor wurde merklich kühler, ja, und? – Es war Bill, der Hund des russischen Wirtes nebenan und nun hat sie natürlich Angst. – So, so, meinte der Direktor. Die Dame von Nummer siebzehn. – Der Hund hat sie gebissen – und ist bisher nicht toll geworden, der schöne Hund? – Na, dann ist ja alles gut, lieber Doktor.“
Lilli Recht war eine schillernde Persönlichkeit: reiselustig, extravagant, lebensfroh. Ebenso schillernd sind ihre Texte: melancholisch, absurd, gesellschaftskritisch; und sie besitzen auch heute noch eine ungebrochene Aktualität.