Der Mythos der Deserteure - Tschechen im Ersten Weltkrieg
In diesen Tagen steht erneut der Ausbruch des Ersten Weltkriegs vor 100 Jahren im Mittelpunkt. Als Datum gilt der 28. Juli 1918, also genau ein Monat nach dem Attentat von Sarajewo, als Österreich-Ungarn Serbien den Krieg erklärte. Damit begann der erste industriell geführte Waffengang der Weltgeschichte. In den darauffolgenden vier Jahren kamen schätzungsweise zehn Millionen Menschen ums Leben, darunter auch 250.000 aus den damaligen Böhmischen Ländern. Was dieser Krieg für sie beziehungsweise die Tschechen und Slowaken bedeutet hat, dazu im Folgenden mehr.
Dies sind die Worte des österreichischen Kaisers Franz Josef, mit denen er in einem Aufruf den Krieg gegen Serbien bekanntmachte. Die Umtriebe eines hasserfüllten Gegners würden ihn „zwingen, nach langen Jahren des Friedens zum Schwerte zu greifen“, stand dort weiter. Noch am selben Tag wurde der Text in allen Städten und Gemeinden der Monarchie ausgehängt.
Die Kriegserklärung kam in dem Moment nicht mehr überraschend, denn zwei Tage zuvor war bereits die Mobilmachung angeordnet worden. Dabei wurden insgesamt auch eine Million Dreihunderttausend Männer aus Böhmen, Mähren und Schlesien zu den Waffen gerufen.
Wie viele Tschechen darunter waren, das lässt sich nicht sagen, denn die Grenzen zwischen den Nationen waren fließend. Die meisten der Rekruten dachten jedoch, der Krieg werde kurz - und spätestens zu Weihnachten sei man wieder zu Hause. Auch der damals 27-jährige Jindřich Prucha war dieser Meinung, wie aus seinem ersten Brief an seine Verlobte hervorgeht:„Liebe Liduschka, ich schreibe Dir gerade vor der Abfahrt unseres Regiments von Močovice irgendwohin nach Osten. Der Krieg ist zwar erklärt, aber unsere Armee ist derart überlegen, dass der Kampf nicht lange dauern kann. Wir Reservisten werden in die Gefechte wahrscheinlich noch nicht einmal eingreifen. Übrigens, wie alle sagen, soll es ein schneller und lustiger Krieg werden.“
Jindřich Prucha war Maler. Nichts war ihm fremder, als Uniformen, Waffen und das Töten. Zu Hause auf der Böhmisch-Mährischen Höhe ließ er neben seiner Liebsten auch unvollendete Bilder von seiner Heimat zurück. Průcha wurde nach Galizien an die Front gebracht, die Gegend zwischen der Westukraine und Südpolen. Er würde die Landschaft malen, wenn er dies könnte, schrieb er während der Zugfahrt Ende August 1914:„Große Felder liegen hier brach, nur mit schlechtem und dürrem Gras bewachsen. Hier und da findet man militärische Feldlager, sie sehen wie beunruhigende dunkle Flecken aus. Die weißen Hemden der Soldaten gehen ins Gelb über, je nachdem wie sauber sie sind. Das Gras und die Bäume am Rand der Wege sind vom Staub grau geworden, nur der Himmel ist klar blau. Ich möchte mehr schreiben, aber bald sollen wir am Ziel sein. Ich küss dich, dein Jindřich!“
Es war der letzte Brief, den Liduschka von ihrem Verlobten bekam. Ein paar Wochen später erhielt sie eine kurze Nachricht, dass Jindřich Prucha gefallen sei. Er starb in der Schlacht bei Komarowo, wo die k. u. k. Truppen auf die russische Armee gestoßen waren.Der Traum von einem kurzen oder sogar lustigen Krieg verwandelte sich schon bald in einen Albtraum. Die Soldaten aus Böhmen wurden vor allem in Serbien, Galizien und Italien eingesetzt. Allein bei den Gefechten am Fluss Sotscha kamen von 1915 bis 1918 auf der k. u. k. Seite 100.000 Soldaten ums Leben, davon etwa 30.000 aus den Böhmischen Ländern. Für die Tschechen war der Krieg jedoch noch in einer anderen Hinsicht tragisch. In mehreren Schlachten kämpften sie gegeneinander, die einen für Österreich-Ungarn und die anderen für die Entente. Schon ab 1914 begannen sich nämlich sogenannte freiwillige revolutionäre Truppen zu formieren, die später als tschechoslowakische Legion bekannt wurden. Diese Truppen waren in Russland, Italien und Frankreich aktiv.
Die Tschechen waren also zum Beispiel in der großen Schlacht an der Piave in Italien auf beiden Seiten vertreten. Ähnlich war es bei der Schlacht beim ukrainischen Sboriw, wo Tschechen und Slowaken auf russischer Seite erstmals als selbständige Einheit eingesetzt wurden und die Armeen von Österreich-Ungarn und Deutschland besiegten. Man schrieb das Jahr 1917, und tschechische und slowakische Politiker führten bereits eine diplomatische Offensive für die internationale Anerkennung eines künftigen eigenständigen Staates. Zdeněk Polčák ist Historiker am Institut für Militärgeschichte in Prag:„Diese Schlacht änderte die Sichtweise der Entente-Staaten auf den Kampf der Tschechen und Slowaken für ihre Selbständigkeit. Der russischen Regierung kam natürlich die Niederlage ihrer Feinde zugute und sie hörte auf, die Formierung der tschechoslowakischen Truppe zu bremsen. Diese Legion rekrutierte sich aus Gefangenen, aber auch aus Deserteuren der k. u. k. Armee. Die Zahl der Soldaten nahm deswegen schnell zu: von 3500 auf bis zu 40.000. Das heißt, es entstand eine reguläre Armee, die alle Seiten in ihre Planungen einbeziehen mussten. Obwohl die Schlacht bei Zborov eher zu den kleineren gehörte, war sie also von großer Bedeutung. Kein Wunder, dass die Leistung der Legion später in der Tschechoslowakei häufig hervorgehoben wurde und für die Armee als Vorbild galt.“ Rund um die Legion entwickelte sich in der Zwischenkriegszeit eine Art Mythus. Ihre Mitglieder erfreuten sich verschiedener Vorteile, von sozialen Zuschüssen bis zur leichten Karriere in der Armee oder in der Staatsverwaltung. Die Mehrheit der Tschechen und Slowaken, die Opfer des Ersten Weltkriegs wurden, egal ob als Gefallene oder Verletzte, kämpften aber auf der Seite der Doppelmonarchie. An sie wurde später offiziell nicht erinnert. Dadurch ist der tschechische Blick auf den Ersten Weltkrieg ein bisschen verzerrt, meint Jíří Rak, Historiker an der Karls Universität in Prag:
„Es ist nicht bekannt, mit welchen Motiven sich die Soldaten der Tschechoslowakischen Legion angeschlossen haben. Es entstand stattdessen die Legende, dass fast jeder, der in die k. u. k. Armee eingezogen wurde, schon von Anfang an zur Legion überlaufen wollte. Das ist aber nicht wahr. Wenn zum Beispiel eine Einheit gefangengenommen wurde, wurden die Soldaten in Lager gesteckt, wo sie endlose Tage verbrachten oder Zwangsarbeit verrichteten. Die Chance, wieder zusammen mit ihren Landsleuten zu kämpfen, könnte für sie einfach die bessere Wahl gewesen sein. Legionäre, die aus der k. u. k. Armee desertiert waren, gab es meiner Meinung nach relativ wenig. Genaue Zahlen sind aber heute nicht mehr zu ermitteln. In der Zwischenkriegszeit wurde die Legion so vergöttert, dass es keine kritischen Berichte gab, und in kommunistischer Zeit war dieses Geschichtskapitel aus ideologischen Gründen tabu. Daher steht uns keine kritische Monografie über die tschechoslowakische Legion zur Verfügung.“
Anlässlich des Weltkriegsjubiläums in diesem Jahr kommen jedoch viele neue Informationen ans Licht. Sie betreffen vor allem konkrete Schicksale tschechischer Soldaten, denn auch heute noch suchen viele Menschen nach ihren verlorenen Vorfahren. In Tschechien sind mehrere Foren im Internet entstanden, in denen sich die Interessenten austauschen können. Auf diese Weise entdeckte zum Beispiel Václav Červený das Grab seines Urgroßvaters Václav Šindelář. 99 Jahre lang war das Schicksal des Weltkriegssoldaten unbekannt gewesen.„Liebe Kinder und werte Mütter! Ich grüße herzlich und bin in ständiger Erinnerung bei Euch, meine Geliebten. Es geht mir bisher gut, und ich bin gesund. Ich hoffe, dass Ihr auch gesund seid. Ich wünsche Euch glückliche und frohe Weihnachten. Kärnten, Dezember 1915.“
So zitiert Václav Červený aus der Ansichtskarte, die er vor kurzem zufällig zu Hause gefunden hat. Durch den Stempel der Feldpost konnte er feststellen, bei welcher Einheit sein Urgroßvater eingesetzt war. Die Nachforschungen nach dem Grab des Vorfahren gestalteten indes komplizierter, viele Tausende Gefallene wurden übrigens gar nicht identifiziert. Per Internet setzte sich Václav Červený mit einigen Italienern in Verbindung, die ihm behilflich waren. Es stellte sich heraus, dass die Überreste von Václav Šindelář mehrmals umgebettet wurden.
„Ich beherrsche keine Fremdsprache, daher musste ich einen Online-Übersetzungsservice nutzen. Es war ziemlich komisch, weil auch die Italiener versuchten, ihre Post auf Tschechisch zu schicken. Sie gaben mir ein paar Tipps, wo ich suchen könnte. Ich machte mich also auf den Weg nach Norditalien. Bei einem geschlossenen Friedhof stellte ich eine brennende Kerze mit einer Nachricht auf, wonach ich suchte, und hinterließ meine Mailadresse. Nach drei Tagen, als ich schon nach Hause abfahren wollte, bekam ich von der Friedhofsverwaltung die Antwort. Auf dem Grab mit Nummer 259 sei unter anderem der Name Sindelar Vaclav.“Solche Entdeckungen dienen nicht nur Privatpersonen, sondern auch den Historikern, um den Ersten Weltkrieg genauer zu erfassen. Für tschechische Geschichtswissenschaftler stand dieses Thema bisher immer im Schatten anderer Epochen der Geschichte ihres Landes.