Tagebuch aus dem Schützengraben und Zeitzeugengespräch – Tschechen im Ersten Weltkrieg

František Krejčí (2. von links). Quelle: Archiv Post Bellum

Sie haben vieles gemeinsam: Der Künstler František Krejčí und der gelernte Gießer Alois Vocásek wurden beide wegen des Ersten Weltkriegs in die k. u. k. Armee eingezogen. 1916 liefen sie zu den Russen über und schlossen sich später der tschechoslowakischen Legion an. Über Sibirien kamen sie dann zurück in ihre Heimat. Krejčís Erlebnisse waren jedoch bisher unbekannt. Erst vor kurzem hat sein Urenkel sein Tagebuch mit Zeichnungen aus dem Schützengraben entdeckt. Vocásek hingegen hat als letzter lebender Zeitzeuge im Jahr 2000 ein Interview zum Ersten Weltkrieg gegeben. Der Tschechische Rundfunk und der Verein Post Bellum haben aus beiden Berichten vor kurzem eine längere Sendung gemacht. Daraus haben wir die interessantesten Passagen zusammengestellt.

Zeichnung von František Krejčí  (Quelle: Archiv Post Bellum)

Zwei Schüsse aus einer halbautomatischen Pistole reichten, und im Sommer 1914 begann ein vernichtender Weltenbrand. 17 Millionen Menschen kamen in den folgenden gut vier Jahren dabei ums Leben. Am 28. Juni verübte der serbische Nationalist Gavrilo Princip das folgenschwere Attentat auf den österreichischen Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand, das den Ersten Weltkrieg auslöste.

František Krejčí nimmt zu Beginn seines Kriegstagebuchs ebenfalls Bezug auf das Attentat von Sarajevo:

František Krejčí: Selbstbildnis  (Quelle: Archiv Post Bellum)

„Einen Monat nach diesem Ereignis wurde an allen Ecken mit Trommeln verkündet, dass der ‚geliebte und gottesgnädige‘ österreichisch-ungarische Kaiser Franz Joseph I. mit wehmütigem Herz eines großen Menschenfreunds genötigt ist, dem unglücklichen Serbien den Krieg zu erklären. Mit dieser Nachricht standen viele von uns wie vor etwas Fürchterlichem.“

Für den talentierten 31-jährigen Zeichner Krejčí beginnt damit die schwerste Zeit seines Lebens. Er wird in die Armee eingezogen und kommt an die russische Front. In den folgenden Jahren schaut er mehrfach dem Tod ins Auge. Doch er überlebt. Und sein Tagebuch aus den Schützengräben ist ein einzigartiges Zeugnis der Kriegsgräuel, denn es enthält neben den Texten auch viele Zeichnungen. Sein Urenkel Petr Skala hat es nun herausgegeben. František Krejčí starb bereits 1955.

Schläge für jeden Fehlschuss

Der frühere Soldat Alois Vocásek hat wohl das einzige Zeitzeugengespräch zum Ersten Weltkrieg auf Tschechisch gegeben. Und zwar im Jahr 2000. Da war er 104 Jahre alt und sollte noch weitere vier Jahre leben.

Vocásek wird erst im April 1915 zur Marschkompanie der siebten Landwehr im nordböhmischen Rumburk / Rumburg abkommandiert. Die Ausbildung sei nur kurz gewesen, sagt er im Interview für das Zeitzeugenprojekt Paměť národa des Vereins Post Bellum.

Alois Vocásek  (Foto: Archiv Post Bellum)

„Sie war einfach. Man lernte Truppe, Reihe, Truppe – und das war´s. Dazu kam noch das Schießen. Wenn jemand bewusst danebenzielte, bekam er eins mit dem Stock auf den Rücken gebrannt. Ich habe immer voll draufgezielt. Aber wir alle bekamen ohnehin nach sechs Wochen den Marschbefehl, und mit neuer Kleidung gingen wir an die Front“, so Vocásek.

Das bedeutet, in den Krieg gegen Russland zu ziehen. Die Ostfront erstreckt sich über 1200 Kilometer von der Ostsee bis zur Grenze zu Rumänien. Im nördlichen Abschnitt bis zu den Pripjet-Sümpfen kämpft die deutsche Armee, südlich davon stehen die Truppen Österreich-Ungarns. Zwar sind die Russen zahlenmäßig überlegen, doch die k. u. k. Armee ist deutlich besser ausgerüstet. František Krejčí beschreibt in seinem Tagebuch das Grauen in den Schützengräben. Deutlich spürbar ist hier schon seine Sympathie für die Russen, das slawische Brudervolk:

Zeichnung von František Krejčí  (Quelle: Archiv Post Bellum)

„Die Toten liegen übereinander, von den Kugeln zur Unkenntlichkeit entstellt. Die Körper sind voller Blut und Dreck, in unzähligen Verrenkungen. Ich habe einen russischen Offizier gesehen, wie er aus dem Schützengraben kam, mit dem Gewehr in der Hand, und sich nicht ergeben wollte. Im Geiste wünschte ich mir, dass er sich durchschlagen möge. Aber angesichts unserer Übermacht wurde ihm das Gewehr aus der Hand gerissen. Er aber begann zu flüchten. Man schickte ihm ein paar Schüsse nach, und er stürzte tot zu Boden. Ein schreckliches Schauspiel! Unser Angriff ist so scharf, dass sich die Russen selbst in den Reserve-Schützengräben nicht mehr halten können. Schüsse, Geschrei, das Stöhnen der Verwundeten, Befehle, das Flehen der Gefangenen – alles vermischt sich zu einem Einzigen.“

Geschrei, das Stöhnen der Verwundeten und Befehle

Zeichnung von František Krejčí  (Quelle: Archiv Post Bellum)

Krejčí und auch Vocásek desertieren jeweils nach der sogenannten Brussilow-Offensive im Sommer 1916. Sie laufen zur russischen Seite über, weil sie nicht mehr auf ihre slawischen Brüder schießen wollen. Das geschieht unter dramatischen Umständen, wie aus dem Tagebuch von František Krejčí hervorgeht:

„Hinter einem Häuschen an der Straße ritten uns die Kosaken entgegen. Es waren auch noch die berüchtigten mit den großen Fellmützen, die ihnen ein bedrohliches Aussehen gaben und uns so viel Angst einjagten. Schon zogen sie ihre Schwerter, obwohl wir unbewaffnet waren. Man nahm uns gefangen, und einer der Kosaken trieb uns nach vorne. Wir krochen auf dem Bauch, weil es auf der Straße nur so blitzte vor Kugeln, die uns nachgeschossen wurden und von den Pflastersteinen aufspritzten. In unserer Hundertschaft war wohl schon bemerkt worden, was wir gemacht hatten. Zum Glück wurde keiner von uns getroffen, höchstens der Tornister auf dem Rücken mit den Fleischkonserven, die dann begannen auszulaufen.“

Zeichnung von František Krejčí  (Quelle: Archiv Post Bellum)

Auch Vocásek wechselt unbewaffnet die Seiten. Er trifft dabei auf andere Tschechoslowaken. Gemeinsam erreicht man in einem Dorf ein zerschossenes Haus, in dem die Russen gerade Tee trinken.

„Dort waren etwa 20 Russen. Als sie uns Österreicher erblickten, dachten sie, dass wir sie überfallen wollten. Manche rissen die Arme hoch, andere griffen nach ihren Gewehren. Wir lachten aber und riefen ihnen zu, dass wir uns ergeben! Als sie dies verstanden hatten, nahmen sie uns unsere metallenen Löffel ab, denn sie hatten nur hölzerne, und auch unsere Schuhe sowie alles, was wir in unseren Taschen hatten. Ich habe natürlich alles gerne abgegeben dafür, dass sie uns nicht umgebracht haben“, so der Zeitzeuge im Interview aus dem Jahr 2000.

Die gefangenen Soldaten aus der k. u. k. Armee werden ins Hinterland geführt. Vocásek trifft in Kiew weitere Tschechen. Die raten ihm, all sein Hab und Gut zu verkaufen. Das macht auch František Krejčí. Und in seinem Tagebuch notiert er, Zitat:

Zeichnung von František Krejčí  (Quelle: Archiv Post Bellum)

„Wir verkaufen alles Mögliche. Jeder treibt hier Handel: der Offizier, der gemeine Soldat, die Oma, die Frau, das Mädchen, der Junge, der Polizist, der Arbeiter und der Reiche. 600 von uns werden irgendwo anders hingeführt. Jeden Tag kommen die Gutsbesitzer hierher und wählen Arbeitskräfte aus. Ich, Vysloužil, Růžička und Kopečný halten indes zusammen, wobei Letztgenannter uns aber doch wegen der Arbeit bei einer Bába verlässt. Wir anderen reißen uns nicht gerade darum.“

Ein paar Wochen später jedoch verdingt sich auch Krejčí auf einem Bauernhof. Und das für 7,50 Rubel im Monat. Zwar reicht das gerade so zum Überleben, doch für die damaligen russischen Verhältnisse ist das nicht wenig.

Armut und Flucht über Sibirien

1917 entstehen in Russland eigenständige tschechoslowakische Legionen, die nun gegen die Mittelmächte kämpfen. Sie werden initiiert vom späteren Staatsgründer T. G. Masaryk. Alois Vocásek schließt sich den Truppen seiner Landsleute an und nimmt beispielsweise auch an der berühmten Schlacht bei Zborów teil.

Zeichnung von František Krejčí  (Quelle: Archiv Post Bellum)

Im September 1917 heuert Krejčí ebenfalls bei den tschechoslowakischen Legionen an, obwohl er eigentlich nichts mehr vom Krieg wissen wollte. Denn da steht Russland bereits am Rande eines Bürgerkrieges, und er hat nur ein Ziel: nach Hause zu gelangen…

„Ich entschloss mich, freiwillig in die Tschechoslowakische Revolutionsarmee einzutreten, deren Gründung erlaubt wurde. (…) Ich und andere, wir wollen nicht ohne Ehre nach Hause kommen, sondern als Kämpen der Freiheit. Und die russischen Zeitungen schreiben über unsere tapferen Jungs nach dem siegreichen Angriff bei Zborów“, schreibt Krejčí.

Der Bürgerkrieg bricht in Russland vollends aus, als die Bolschewiki im November des Jahres die Macht im Land übernehmen. Für die tschechischen und slowakischen Soldaten beginnt da aber eine lange Flucht nach Hause. Die Mehrheit von ihnen steht auf der Seite der Weißen Armee. Als einzige Möglichkeit der Heimkehr erweist sich der Weg über Sibirien – 9000 Kilometer nach Wladiwostok und dann per Schiff in die neu gegründete Tschechoslowakei. Auch František Krejčí und Alois Vocásek machen den ganzen Weg mit, beide kehren erst 1920 heim.

Autor: Till Janzer
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