Märsche, Schnurrbärte und Sibirien - deutschböhmische Künstler im Ersten Weltkrieg

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Nicht nur am Ende des Zweiten Weltkriegs fanden sich deutsche oder deutschsprachige Soldaten in Sibirien wieder. Schon im Ersten Weltkrieg geschah dies. Eine besondere Gruppe darunter waren deutschsprachige Künstler aus den Böhmischen Ländern, darüber haben wir bereits in einem Beitrag zu einer Ausstellung in Liberec / Reichenberg berichtet. Im Folgenden mehr über die Künstler und einige ihrer Schicksale.

Heinrich Hönich
In der k. u. k. Monarchie bestand die allgemeine Wehrpflicht – und das seit 1868. Bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs konnten sich daher auch Künstler dem Einsatz nicht entziehen. Einige von ihnen sprachen Deutsch und kamen aus Böhmen, Mähren und Schlesien. Heinrich Hönich wurde beispielsweisen im nordböhmischen Reichenberg, tschechisch Liberec, geboren. Bei Kriegsausbruch war er zwar schon 40 Jahre alt, das schützte ihn jedoch nicht vor der Mobilmachung. Anna Habánová von der Technischen Universität in Liberec hat sich unter anderem mit dem Schicksal dieses Künstlers näher beschäftigt:

„Heinrich Hönich lebte zu Kriegsbeginn in München. Er hatte zuvor in Prag und in München studiert. Und weil er nicht der Jüngste war, aber als Bürger Österreichs-Ungarns einberufen wurde, ist er zum Kriegspressequartier gekommen.“

Anna Habánová  (Foto: Archiv von Anna Habánová)
Kriegspressequartier, das bedeutete aber nicht Büroarbeit, sondern ebenso der Einsatz in den Kriegsgebieten.

„Die Künstler sind mitgefahren. Sie mussten aber nicht an den Kampfhandlungen teilnehmen. Die Künstler waren an der Kleidung in besonderer Form kenntlich gemacht. Sie hatten auch einen Diener dabei und konnten somit nach einer Schlacht oder während der Fahrt beziehungsweise des Marsches zeichnen. Diese Zeichnungen haben sie dann in ihren Ateliers weiter ausgemalt. Ein Bild pro Monat oder eine Zeichnung pro Woche mussten abgegeben werden. Die Werke wurden dann nach Wien geschickt und von dort in weitere Orte verteilt, um Ausstellungen zu zeigen. In Böhmen kamen die Werke zum Beispiel nach Brünn, Karlsbad oder Reichenberg und natürlich nach Prag“, so Habánová.

Bilder ohne Schlachtszenen

Emil Orlik  (Foto: Public Domain)
Auch die Presse verwendete Werke von Künstlern, die an der Front waren. Der aus Prag stammende Emil Orlik fertigte zum Beispiel Zeichnungen und Lithographien für den Verlag Wieland an. Und Friedrich Feigl, ebenfalls aus der Stadt an der Moldau, arbeitete für das Berliner Magazin „Kriegszeit“.

Heinrich Hönich musste dreimal zu sogenannten Exkursionen ausrücken. Historikerin Habánová

„Erstens war das an der serbischen Front, dann in Galizien, und einmal war er in Italien. Und die Eindrücke von diesen Exkursionen musste er wiedergeben. Das heißt, er hat drei Konvolute von Grafiken angefertigt, das sind insgesamt mehr als 50 Blätter. Darin hat er das gängige Leben im Heer gezeigt, aber auch in den Städten selbst, durch die er mit der Armee gekommen ist. Die Werke sind absolut harmlos, da sind kein Anzeichen von Kämpfen zu sehen, keine Kriegsszenen.“

Ausstellung Nach Sibirien!  (Foto: Offizielle Facebook-Seite der Regionalgalerie Liberec)
Denn in dieser Angelegenheit wurde scharf zensiert. Besonders in den Anfangszeiten sollte alles aussehen wie ein Spaziergang. Man glaubte auch in Wien daran, dass bis Weihnachten 1914 alles geregelt sei – dass letztlich ein Weltenbrand entfacht war, ahnte zunächst niemand.

Lagerleben als Sujet

Es gab jedoch Künstler, die nicht als Pressesoldaten unterwegs waren, sondern regulär in der Armee dienten. Sie gerieten unter Umständen auch in Gefangenschaft. Dabei bestanden Unterschiede. In Russland sah die Internierung für die deutschsprachigen Böhmen anders aus als für ihre tschechischsprachigen Landsleute.

Lena Radauer von der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg hat sich vor allem mit der sibirischen Gefangenschaft beschäftigt. Die österreichische Historikerin sagt:

K.u.k.-Infanterie an der Ostfront  (Foto: Public Domain)
„Die russische Regierung hat eine Trennung der Kriegsgefangenen nach Nationalitäten durchgeführt. Diese Trennung wurde natürlich nicht hundertprozentig durchgesetzt, es war eine Richtlinie. Aber grundsätzlich kann man schon sagen, dass einem Großteil der slawischen Kriegsgefangenen eine andere Behandlung zuteilwurde als den sogenannten Deutschen, zu denen auch die Österreicher gezählt wurden oder die Ungarn. Bereits in den Sammellagern, direkt nach der Gefangennahme, wurden die Nationalitäten getrennt. Und während die deutschen Kriegsgefangenen in erster Linie weit weg von der Front geschickt wurden – nach Sibirien, aber auch nach Turkestan, wo vor allem die Österreicher waren –, wurden die Slawen in bevorzugten Bedingungen interniert. Sie waren in erster Linie in Westrussland gefangen. Der Gedanke dahinter war, die slawischen Angehörigen der feindlichen Armeen, also die „slawischen Brüder“ – man darf nicht vergessen, dass zu der Zeit noch die Idee des Panslawismus aktiv war –, gegen Österreich-Ungarn wieder militärisch einzusetzen.“

Tschechoslowakische Legionen
So unterstützte das Zarenreich die Entstehung tschechoslowakischer Legionen – und damit auch den Kampf um Selbstbestimmung und einen eigenen Staat. Doch auf Seite der sogenannten Deutschen traf es die Künstler trotzdem nicht ganz so hart:

„Grundsätzlich würde ich behaupten, dass die Künstler relativ gut davongekommen sind. Mit ihrem kreativen Geist und ihrer Begeisterung für Landschaften hatten sie viele Inspirationen in Sibirien. Trotz der widrigen Umstände des Lagerlebens, die nicht zu unterschätzen sind, fanden sie die Möglichkeit zu arbeiten und hatten durch den Lageralltag oder einfach durch das russische Leben ein Sujet“, so Lena Radauer.

Wie Offiziere behandelt

Werk von Alfred Kunft aus der Ausstellung Nach Sibirien!  (Foto: Archiv der Regionalgalerie Liberec)
Ein Beispiel ist Alfred Kunft, der die Stadt Wladiwostok in seinen Bildern und Zeichnungen festgehalten hat. Ein anderer war Ferdinand Michl, der seine Gefangenschaft sogar als „Studienaufenthalt“ beschrieben hat.

Dass die Künstler die Internierung relativ gut überstanden, verdankten sie aber auch ihrer privilegierten Stellung in der Armee. Häufig hatten sie sich freiwillig für ein Jahr verpflichtet. Lena Radauer:

„Gerade durch ihren relativ hohen Bildungsgrad – alle Maler genossen schon vor dem Krieg eine höhere Ausbildung – hatten sie einen relativ hohen Grad im Militär. Als einjährige Freiwillige stiegen sie sofort als Offiziersanwärter in der Armee ein. Das hat sich maßgeblich in der Kriegsgefangenschaft niedergeschlagen. Denn nach dem russischen System gab es keine Offiziersanwärter, sie wurden wie Offiziere behandelt. Sprich: Sie wurden nicht zu Arbeitseinsätzen eingeteilt, sondern waren im Lager untergebracht, bekamen monatliche Geldauszahlungen, die allerdings teilweise zurückgehalten wurden und später – wegen der Inflation –zum Leben sogar nicht mehr ausreichten.“

Ausstellung Nach Sibirien!  (Foto: Archiv der Regionalgalerie Liberec)
Bei der Erforschung dieser speziellen Gefangenengruppe stehen die Historiker allerdings vor einem Problem: Die Quellen sind sehr lückenhaft. Deswegen haben Anna Habánová und Lena Radauer bisher nur die Biographien von neun deutschböhmischen Künstlern verfolgen können. Ganz besonders interessant scheint dabei Franz Gruß, weil er besonders abenteuerlustig gewesen sein soll – und weil seine Tochter 1970 ein Interview mit ihm geführt hat.

„Franz Gruß wurde 1891 in Graslitz geboren und studierte vor Kriegsausbruch in Wien an der Kunstakademie. Er geriet 1915 in Kriegsgefangenschaft und durchlief mehrere Lager. Als einfallsreicher Geist war er in der Lage, während der Gefangenschaft künstlerisch tätig zu sein und damit auch für sein Einkommen zu sorgen. Zum Beispiel war er sehr beliebt bei der russischen Wachmannschaft, die ließ sich von Franz Gruß gerne porträtieren. Und es gibt eine Anekdote, bei der er erzählt, dass der Wachmannschaft ganz besonders die Schnurrbärte der k. u. k. Monarchie gefielen. Deshalb pochten all diese russischen Wachmänner immer darauf, dass man ihnen zusätzlich noch diesen Schnurrbart in die Zeichnungen hineinfügt.“

Bitte mit Schnurrbart

Franz Gruß: Sibirien  (Foto: Archiv der Regionalgalerie Liberec)
Franz Gruß war vor allem im Ural interniert, zum Schluss in Irbit bei Perm. Dort traf es sich, dass der Lagerleiter selbst auch Kunst studiert hatte – für den gefangenen Deutschböhmen ergaben sich daraus Vorteile.

„Er war in verschiedenster Art und Weise tätig, er konnte Aquarellbilder anfertigen, er konnte zeichnen und hat sogar auch geschnitzt. In Irbit haben sich die Kriegsgefangenen zusammengetan und beschlossen, den Lagerfriedhof anständig herzurichten. Franz Gruß hat dann zum einen Grabsteine selbst gemacht und zum anderen einen überlebensgroßen Christus aus Holz geschnitzt“, sagt Lena Radauer.

Ferdinand Michl: Krasnojarsk  (Foto: Archiv der Regionalgalerie Liberec)
Der Lagerleiter stellte Gruß sogar einen Ausweis aus, mit dem sich dieser auch außerhalb des Lagers bewegen konnte. Das nutzte der Inhaftierte letztlich zur Flucht zurück nach Böhmen. Auch die anderen Künstler kehrten später in die neu entstandene Tschechoslowakei zurück. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden sie dann vertrieben – mit einer Ausnahme: Ferdinand Michl war schon vor dem Ersten Weltkrieg in Wien tätig gewesen und siedelte sich nach der Gefangenschaft dort auch wieder an.


Die Ausstellung „Na Sibiř“ ist in der Bezirksgalerie von Liberec zu sehen. Historikerin Habánová sucht aber weiter nach Werken deutschböhmischer Künstler und nach Dokumenten von ihm oder über ihn. Dazu besteht eine eigene Webseite: www.nemeckoceskeumeni.cz.