„Engagement, Ernsthaftigkeit und Zielstrebigkeit“ – tschechische Abgeordnete im Wiener Reichsrat
Die tschechische politische Kultur der Gegenwart wird sehr kritisch bewertet. Das war aber nicht immer so, denn zu Beginn des 20. Jahrhunderts gehörte die tschechische Gesellschaft zu den politisch engagiertesten in Europa. Den Kern der politischen Führungsgruppen bildeten die Abgeordneten im Reichsrat der Donaumonarchie in Wien. Ihr Wirken hat der Historiker Robert Luft in einer umfangreichen Kollektivbiographie dokumentiert. Im Folgenden ein Interview mit dem Wissenschaftler.
„Politische Kultur umfasst sowohl strukturell das Parteienwesen, das Organisationswesen und die Presse, als auch die konkreten Traditionen, welche Werte und Formen von politischer Auseinandersetzung existierten und wie wurden sie gestaltet.“
Welche Parteien gab es damals in der tschechischen Nation und welche Ziele hatten diese?
„Das ist vielleicht überraschend, aber es gab mehr als 20 verschiedene Parteien. Entscheidend ist, dass sich diese Parteien in fünf großen Blöcken zusammenfassen lassen. Da gibt es natürlich die Sozialdemokratie und die Agrarpartei, sie sind die zwei Mitglieder- und Abgeordnetenstärksten Parteien. Daneben existierten die traditionellen Jungtschechen, also die nationalen bürgerlichen Parteien. Außerdem gab es eine nationalsoziale Partei, die zwischen Sozialdemokratie und den bürgerlichen Parteien stand. Was häufig vergessen wird, ist das katholische Spektrum von Parteien, die vor allem in Mähren sehr stark verbreitet waren.“
Wie sah denn die Arbeit damals im Reichsrat aus? Welche Einflussmöglichkeiten hatten Parlamentarier in einer Monarchie wie der österreichisch-ungarischen?„Die Arbeit der Abgeordneten wird bis heute unterschätzt. Zum einen war der Wiener Reichsrat ein redendes Parlament, das heißt die Reden standen im Vordergrund. Trotzdem ist auch sehr viel einflussreiche Arbeit in den Ausschüssen geleistet worden. Entschieden wurde natürlich über die Gesetzgebung, den Staats-Etat und alle Haushaltfragen, aber auch über Projektförderungen in den verschiedensten Bereichen. Das Ministerium für Öffentliche Arbeiten, das zum Beispiel für Baumaßnahmen verantwortlich war, war sehr wichtig, wenn es im regionalen oder nationalen Rahmen der Monarchie um die Verteilung von Aufträgen an verschiedene Nationen ging. Oft wird der Einfluss der Abgeordneten unterschätzt, da man nur auf die Wahrnehmung in der Presse schaut und nicht auf die Tagesarbeit. Die Abgeordneten waren sehr engagiert und haben ihre Arbeit im Reichstag sehr ernsthaft betrieben, das gilt für alle Nationen und für fast alle Parteien. Der Parlamentarismus wird auch unterschätzt, weil er eine Grenze hatte: die Regierung. Es gab damals kaum parlamentarische Regierungen. Die Regierungen wurden vom Kaiser ernannt und mussten sich dann im Parlament selbst Mehrheiten schaffen. Sie sind also nicht aus Mehrheiten im Parlament geschaffen worden. Das ist die Grenze der Wirkungsmöglichkeiten. Die vollständige parlamentarische Partizipation am Staat war nicht gegeben, aber der Einfluss der frei gewählten Abgeordneten war sehr hoch.“
Gab es ein besonderes Ziel, das die tschechischen Abgeordneten im Wiener Reichsrat verfolgt haben?„Der Fokus der wissenschaftlichen Betrachtung und auch des öffentlichen Geschichtsbewusstseins liegt immer auf der Frage der nationalen Autonomie. Das war für die tschechische Nation und die tschechischen Parteien ein zentraler Punkt: keine Selbstständigkeit, sondern eine Föderalisierung des Staates und eine weitgehende Autonomie der tschechischen Nation und der böhmischen Länder als regionaler Föderalismus. Das ist natürlich ein publizistisch sehr gut vermittelbares Ziel. Im Detail sind die ökonomischen und sozialen Interessen, die die einzelnen fünf großen Parteiblöcke repräsentieren, aber ganz deutlich in der Arbeit zu erkennen und es sind dort auch Erfolge erzielt worden. Dieser Aspekt geht immer wieder verloren, wenn man nur auf die nationale Frage schaut und nicht die sozioökonomischen Interessen im Blick hat, in denen die tschechischen Parteien in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg erfolgreicher waren.“
Sie sprechen vom Verhältnis der Tschechen zu Staat und Parlament. Wie war dieses Verhältnis? Und wie hat es sich gewandelt?„Das Verhältnis der Tschechen zum Parlament in der Österreichischen Monarchie hat sich sicherlich gewandelt. 1848 war das Parlament für die tschechische Nation noch sehr attraktiv, aber in den 60er und 70er Jahren des 19. Jahrhunderts war es eher distanziert. Nach 1900 gab es dann wieder ein wachsendes Interesse am Wiener Parlament, weil man um die Möglichkeiten des Parlaments wusste und es ein demokratisch gewähltes Parlament war. Trotzdem ist das Verhältnis der tschechischen Gesellschaft zum habsburgischen Staat und Wien ambivalent. Da das Parlament in Wien war und nicht in Prag, war die Wirkung natürlich distanzierter. Auch hierbei wurde das Verhältnis in der tschechoslowakischen Republik nach 1918 verfälscht dargestellt. Das Verhältnis der tschechischen Teilgesellschaft der Habsburger Monarchie zum Staat war weitgehend loyal und es gab sehr große Ansprüche an einer Weiterentwicklung. Was später mythisiert wurde, bis hin zu einer Unterdrückung unter der Habsburgerischen Herrschaft bis 1918, entspricht nicht der Realität.“
Wie muss man sich ein Mandat damals vorstellen? War ein Abgeordneter für einen Wahlkreis zuständig und hat diesen auch betreut? Hat er auch wirklich singuläre Interessen des Wahlkreises im Wiener Parlament vertreten?„Im 19. Jahrhundert gab es ein Wahlsystem, das am ehesten dem heutigen englischen System gleicht. Es gab also einen Einerwahlkreis, in dem man eine Mehrheit bekommen musste. Obwohl die tschechischen Parteiorganisationen sehr stark waren, waren die Persönlichkeit und die Verwurzelung im Wahlkreis des einzelnen Abgeordneten sehr wichtig. Das hat man auch an seiner Arbeit gemerkt. Mit Interpellationen, also Eingaben im Parlament, wurde sehr viel für die Wahlkreise erreicht. Es gab natürlich ein Spannungsverhältnis, wenn die Prager Parteileitung einen Kandidaten nominierte und ein lokaler Kandidat gegen diesen antrat. Somit kam es also zu Gegenkandidaturen von Mitgliedern derselben Partei. Trotzdem war das ein sehr viel direkteres Verhältnis als wir es heute kennen.“
Wie wurde eigentlich gewählt? Sie sagten, dass in Wien die Demokratisierung durchgeführt worden sei. Bedeutet das, dass es eine Wahl war, wie wir sie uns heute vorstellen: frei, gleich, geheim?„Ja, das ist das Entscheidende. 1907 wurde in Österreich für den Reichsrat das allgemeine, gleiche, direkte und geheime Wahlrecht eingeführt. Dieses galt aber nicht für die Landtage und Kommunalparlamente. Bei allen anderen parlamentarischen Körperschaften herrschte noch ein Klassenwahlrecht, in dem vor allem Stadt- und Landgemeinden voneinander getrennt waren, aber auch der Adel eine Sonderstellung bekam. An der Demokratisierung des Wahlrechts, die durch eine Wahlreform 1906 eingeführt wurde, hatten die deutsch-österreichische und die tschechische Sozialdemokratie, aber auch die internationale Entwicklung einen ganz entscheidenden Anteil. In dieser Zeit gab es auch in Russland, im osmanischen Reich und in Ungarn Wahlreformen, sodass sich Österreich in diese internationale Entwicklung eingebettet hat. Österreich machte 1907 mit dem neuen Wahlrecht aber einen ganz massiven Sprung und war damit anderen Regionen zum Teil voraus.“
Die heutige politische Kultur der Tschechischen Republik hat bei den Bürgern einen sehr schlechten Ruf. Ist es im Vergleich zu damals besser oder schlechter geworden? Lassen sich gewisse Traditionen erkennen?„Zwar sehe ich keine Traditionen, aber ich fände es positiv, wenn man diese Traditionen wiederbeleben würde. Ich glaube, dass die tschechischen Parlamentarier des damaligen Zentralparlaments durchaus eine gute Tradition übermitteln oder partiell sogar ein Vorbild für den heutigen Parlamentarismus sein könnten. Parlamentarier hatten damals ein sehr hohes Prestige, sie waren sehr bekannt und wurden geschätzt. Es gab auch damals Skandale und Korruptionsaffären, doch ging es dabei meistens nicht um die Frage von finanzieller Vorteilnahme, sondern darum, inwieweit man nationale Interessen verriet. Parlamentarier sind keine Heiligen und keine Priester, auch wenn das Wiener Parlament bis heute ein Tempelgebäude ist. Sie sind immer auch ein Abbild der Gesellschaft, aber das Engagement, die Ernsthaftigkeit und die Zielstrebigkeit, mit der die tschechischen Abgeordneten auch konzeptionell vor 1914 gearbeitet haben, ist wirklich beeindruckend.“
Dieser Beitrag wurde am 22. Juni 2013 gesendet. Heute konnten Sie seine Wiederholung hören.