Der Fall Kalvach: Wie geistig Behinderte aus Österreich in die Tschechoslowakei abgeschoben wurden

Rudolf Kalvach (Foto: Archiv des Leopold-Museums in Wien, CC BY-SA 3.0)

Der Untergang der Habsburger-Monarchie im Jahre 1918 hatte Auswirkungen auf das Leben von Millionen Menschen. Nicht alle begrüßten die neu entstandenen Staaten, in denen sie nun leben mussten und viele Familien waren durch neue Staatsgrenzen getrennt. Und noch in den 1920er Jahren wurden geistig Behinderte aus Österreich wider Willen in die Tschechoslowakei deportiert. Offizielle Begründung war das so genannte Heimatrecht, dass viele dieser Menschen noch im Nachbarstaat hatten.

Ausstellung Fantastisch! Rudolf Kalvach!  (Foto: Leopold Museum im MQ/APA-Fotoservice/Pauty)
Fantastisch! Rudolf Kalvach! Unter diesem Titel veranstalte 2012 das Leopold-Museum in Wien die erste umfassende Präsentation dieses bis dahin vergessenen Malers. Museumsdirektor Tobias Natter bezeichnete Kalvach als „Ikarus zwischen Jugendstil und Expressionismus“. Während andere Künstler dieser Zeit wie Oskar Kokoschka oder Egon Schiele in einem Atemzug mit den größten Künstlern des 20. Jahrhunderts genannt wurden, geriet Kalvach in Vergessenheit. Grund dafür könnte sein, dass ihm wegen seiner Krankheit nur eine kurze Zeit des aktiven Schaffens gegönnt war.

Anlässlich der umfangreichen Ausstellung wurde natürlich auch die Lebensgeschichte des Künstlers dokumentiert. Dabei wurde dann etwas bekannt, was auch die Historiker überraschte: der gebürtige Österreicher starb 1932 in einer psychiatrischen Anstalt in der Tschechoslowakei, ohne jemals zuvor in Böhmen gelebt zu haben oder auch nur ein Wort tschechisch zu können. Marek Kerles ist Journalist und Mitarbeiter der Tageszeitung Lidové Noviny. Er hat die Geschichte recherchiert und veröffentlicht:

Marek Kerles  (Foto: Archiv der Tageszeitung Lidové Noviny)
„Rudolf Kalvach lebte zunächst in Wien. Dort hat er studiert, dann ist er nach Triest gegangen, wo sein Vater als Eisenbahner eingesetzt war. Das einzige, was Kalvach mit Böhmen verband, war der Geburtsort seines Vaters: Rychnov nad Kněžnou / Reichenau an der Knieschna. Dort verbrachte Kalvachs Vater jedoch nur das erste Jahr seines Lebens, dann zog die Familie nach Wien und pflegte keine Kontakte mehr nach Böhmen. Kalvachs Mutter, sowie er selbst, waren in Wien geboren. Die vielversprechende Karriere des jungen Malers wurde jedoch bald durch seine psychische Krankheit beeinträchtigt. 1912 musste er mit 30 Jahren zum ersten Mal wegen Schizophrenie in die Wiener Anstalt ‚Am Steinhof‘ eingeliefert werden. Dies wiederholte sich mehrere Male bis ins Jahr 1921, dann musste er dauerhaft untergebracht werden. Fünf Jahre später wurde er jedoch wider seinen Willen in die psychiatrische Klinik in Kosmonosy bei Jungbunzlau ‚abgeschoben‘. Dort starb Kalvach sechs Jahre später.“

Rudolf Kalvach  (Foto: Archiv des Leopold-Museums in Wien,  CC BY-SA 3.0)
Kalvach wurde aufgrund des so genannten Heimatrechts in die Tschechoslowakei abgeschoben. Dies wurde in der Habsburger Monarchie 1849 eingeführt und ging von einer progressiver Idee aus: Jeder Bürger musste in einer Gemeinde gemeldet sein, diese garantierte ihm dann grundlegende soziale Sicherheit. Darunter verstand man vor allem den Anspruch auf ungestörten Aufenthalt und Armenpflege im Notfall. Das Heimatrecht erhielt man bei der Geburt, es orientierte sich am Recht des Vaters.

Nach dem Zerfall der Monarchie übernahmen sowohl Österreich, als auch die Tschechoslowakei das System des Heimatrechts. Die Bestimmung galt in beiden Staaten bis zum zweiten Weltkrieg, danach wurde sie durch neue Sozialgesetze ersetzt. Sie hatte jedoch auch eine Schwachstelle: Wenn jemand aus seiner „heimatlichen“ Gemeinde auszog und jahrelang an einem anderen Ort lebte, sollte er eigentlich an seinem neuen Wohnort das Heimrecht beantragen. Sonst konnte es passieren, dass er bei finanziellen Problemen oder im Alter zurückgeschickt wurde.

Rychnov nad Kněžnou / Reichenau an der Knieschna  (Foto: Radek Bartoš,  Wikimedia CC BY-SA 3.0)
Die Behörden kamen jedoch den Zugezogenen nur sehr ungern entgegen, besonders dann, wenn es sich um Arme handelte. Kalvachs Vater erhielt beispielsweise das Heimatrecht in Wien erst mit 54 Jahren und wahrscheinlich nur, weil er Staatsangestellter war. Er musste dafür auch 406 Kronen entrichten, eine relativ hohe Summe. Allerdings ging das neue Heimatrecht nicht auf seinen Sohn über, Kalvach hätte dies selbst beantragen müssen. Ob er diesen Schritt unternommen habe, bleibt unklar, sagt der Journalist:

„Als Kalvach bereits dauerhaft in der Anstalt ‚Am Steinhof‘ in Wien untergebracht war, stellten die österreichischen Behörden fest, dass er sein Heimatrecht eigentlich in der ostböhmischen Stadt Reichenau an der Knieschna hatte. Dies bedeutete zugleich, dass Kalvach tschechoslowakischer Staatsbürger war, auch wenn er dort nie zuvor gewesen war und fast sein ganzes Leben in Österreich verbracht hatte. Der Wiener Gerichtshof hat dann entschieden, dass sich seine Heimgemeinde Reichenau um Kalvach kümmern müsse. Diese besorgte dann für den kranken Maler einen Platz in der nächst gelegenen Anstalt, und die war in Kosmonosy.“

Kosmonosy  (Foto: Zdeněk Fiedler,  Wikimedia CC BY-SA 3.0)
So gelangte der früher erfolgreiche Künstler, dem die Krankheit die Arbeit nicht mehr ermöglichte, am 30. Juni 1926 in die Tschechoslowakei. Und nicht nur er: mit ihm kamen weitere elf geistig Behinderte aus Österreich nach Kosmonosy. Sie alle hatten im Einzugsgebiet der Anstalt ihr Heimatrecht. Der dortige Arzt und Amateurhistoriker Milan Novák fand im Archiv der Anstalt heraus, dass auch diese Österreicher gar nicht tschechisch konnten und in eine gänzlich fremde Umgebung gelangten. Es war auch Novák, der dem Leopold-Museum in Wien half, die Details über das letzte Kapitel von Kalvachs Leben zu rekonstruieren. Dabei hat er ein bisher unbekanntes Thema der tschechisch-österreichischen Geschichte aufgetan, betont der Journalist Kerles:

Illustrationsfoto: Tomáš Adamec,  Archiv des Tschechischen Rundfunks
„Ganz klar belegt sind diese zwölf Fälle. Man kann aber annehmen, dass die tatsächliche Zahl viel höher gewesen war. Falls auch andere psychiatrische Anstalten in Österreich auf diese Weise vorgingen, könnte es sich um Hunderte von Menschen handeln. Besonders bei nicht mehr selbstständigen Patienten lohnte es sich zu überprüfen, ob sie nicht außerhalb Österreichs ihre Heimatgemeinde hatten. Man muss dazu wissen, dass zur Zeit der Monarchie jährlich tausende Menschen aus Böhmen und Mähren nach Österreich zogen und viele dort eine neue Existenz gründeten. Wie viele dann zwangsweise repatriiert wurden, ist eine offene Frage. Dazu müssten die Archive einzelner Kliniken durchgegangen werden, was einige Jahre an Arbeit kosten würde. Einige Anstalten gibt es sogar heute nicht mehr. Natürlich waren nicht nur Behinderte betroffen, es reichte ja, in eine Notlage zu gelangen oder festgenommen zu werden. Aber kein Historiker, den ich befragt habe, wusste etwas über das Thema.“

Foto: Simon Howden,  FreeDigitalPhotos.net
Die Erkrankten hunderte von Kilometer in ein fremdes Land zu schicken, scheint aus heutiger Sicht sehr grausam zu sein. Als ob heute ein behinderter Tscheche in die Ukraine gebracht würde, nur weil dort sein Großvater geboren ist, vergleicht Marek Kerles. Zugleich fügt er aber hinzu, dass es damals wahrscheinlich kein großes Aufsehen auslöste. Die Tschechoslowakei erkannte das Heimatrecht an und nahm sich dieser Pflicht an. Erstaunlicherweise waren auch die Verwandten der Betroffenen damit einverstanden, zumindest im Fall von Kalvach. Die Korrespondenz zwischen Kalvachs Vater und dem Gerichtshof in Reichenau ist nämlich erhalten geblieben. Aus dieser lässt sich entnehmen, dass Kalvach Senior froh war, dass sein Sohn in ein „zivilisiertes und reiches Land“ kam. Der Tschechoslowakei ging es nämlich in der Zwischenkriegszeit wirtschaftlich deutlich besser als Österreich und dem entsprachen wahrscheinlich auch die Bedingungen in den Anstalten für geistig Behinderte.

Natürlich stellt sich auch die Frage, ob die ungewollte Repatriierung auch umgekehrt verlief, also aus der Tschechoslowakei nach Österreich. Grundsätzlich wäre dies möglich gewesen, denn die Anerkennung des Heimatrechtes war beiderseitig. Die Wanderung vor dem ersten Weltkrieg verlief aber nur in eine Richtung: ins Herz der Monarchie. Österreicher, die sich in den böhmischen Ländern aufhielten, zogen vermutlich nach der Entstehung der Tschechoslowakei freiwillig zurück. Aber da es sich um ein nur wenig erforschtes Thema handelt, ist die Entdeckung eines vergessenen Genies, der nach Österreich geschickt wurde, durchaus noch möglich.