Samtene Revolution 1989: das politische Comeback von Dubček
Vor genau 23 Jahren – am 17. November 1989 – begann in der damaligen Tschechoslowakei die politische Wende. Auf die brutale Niederschlagung eines Protestmarschs von Studierenden in Prag reagierten landesweit tausende Tschechen und Slowaken mit Protestkundgebungen. Sie klimperten mit ihren Schlüsseln und bedeuteten so den kommunistischen Machthabern, endlich nach Hause zu gehen – es war der Startschuss für die so genannte Samtene Revolution ab. Die politische Wende spülte dann viele sowohl bis dahin unbekannte Menschen als auch mehrere ehemalige Reformkommunisten in die Politik hoch. Von den Letzteren war bestimmt der Slowake Alexander Dubček am bekanntesten.
„Meine lieben Prager, ich habe Sie gern und Sie wissen dies.“ Mit diesen Worten trat Alexander Dubček am 24. November bei einer der ersten Protestkundgebungen auf dem Prager Wenzelsplatz auf. Viele der Anwesenden waren Zeitzeugen der Ereignisse von 1968 in der Tschechoslowakei. Sie hatten Dubček im Gedächtnis behalten als ein Symbol des Prager Frühlings, des damaligen politischen Tauwetters. Er hatte das Schlagwort geprägt vom „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“.
Einige Zurufe auf dem Prager Wenzelsplatz lauteten: „Dubček auf die Burg“. Auch viele Tschechen konnten sich damals Dubček als ihren Präsidenten auf der Prager Burg vorstellen. Er selbst zeigte sich ebenfalls an dieser Funktion interessiert – sie hätte ihm sicher Genugtuung bereitet nach all den Jahren der politischen Isolation.Bei den Verhandlungen zwischen Vertretern der wichtigsten damaligen politischen Institutionen – dem tschechischen „Bürgerforum“ (Občanské forum / OF) und der slowakischen Bürgerbewegung „Öffentlichkeit gegen Gewalt“ (Verejnosť proti násiliu / VPN) - zeigte sich aber, dass Dubček nach wie vor als eine kontroverse Persönlichkeit empfunden wurde. Dass er 1989 letztlich nicht Präsident der Tschechoslowakei wurde, hatte mehrere Gründe. Historiker Oldřich Tůma von der tschechischen Akademie der Wissenschaften:
„1989 war Dubček bestimmt schon ein Mann der Vergangenheit – er war eher ein Symbol und Medienbild als ein wirklicher Politiker. Dass er als solcher in Bratislava und in Prag auf dem Wenzelsplatz vor den versammelten Menschen auftauchte, war wichtig, doch weder im November 1989 noch in den nachfolgenden zwei, drei Jahren seines Lebens vertrat er noch eine relevante politische Richtung. Alle Voraussetzungen, tschechoslowakischer Präsident zu werden, hatte vielmehr Václav Havel.“Hinter den Kulissen spielte sich ein politisches Tauziehen ab um die Besetzung des Präsidentenamtes. Zur Geltung kamen dabei mehrere Faktoren. O. Tůma:
„Druck haben erstaunlicherweise die Spitzenvertreter der slowakischen ‚Öffentlichkeit gegen Gewalt’ ausgeübt. Sie kannten Dubček wahrscheinlich besser und empfahlen ihn nicht für diesen Posten. Hinzu kam, dass der neue Regierungschef Marián Čalfa ein Slowake war und laut einem ungeschriebenen Gesetz wiederum ein Tscheche Staatspräsident sein sollte. Nicht zuletzt waren es auch ziemlich komplizierte Verhandlungen zwischen der Führung des Bürgerforums, Václav Havel, Alexander Dubček und Marián Čalfa. Dubček verzichtete letztlich auf seine Präsidentschaftskandidatur. Damit öffnete sich der Weg für Václav Havel, ohne dass ein Wettkampf zwischen einem Tschechen und einem Slowaken ausgetragen werden musste. Das hätte sich damals bestimmt auch niemand gewünscht.“Ab 1969 hatte Dubček nicht mehr am öffentlichen Leben des kommunistischen Staates teilnehmen können. Dass er nach der politischen Wende von 1989 in die hohe Politik zurückkehrte, stand allerdings außer Zweifel - aus welchen Gründen auch immer. Am 28. Dezember wurde er zum Vorsitzenden des tschechoslowakischen Parlaments gewählt.
Am 29. Dezember 1989 wurde Václav Havel im historischen Vladislav-Saal auf der Prager Burg zum tschechoslowakischen Präsidenten gewählt. Es war die Ironie der Geschichte, dass das weiterhin kommunistisch dominierte Parlament für den ehemaligen Dissidenten votierte. Als erster gratulierte Alexander Dubček dem neuen Präsidenten.Nachdem die Emotionen über den Umbruch des Jahres 1989 etwas abgeklungen waren, wurde auch die Präsenz Alexander Dubčeks in der Politik zunehmend differenzierter betrachtet. Es blieb zwar der Respekt gepaart mit etwas Nostalgie für die hoffnungsvolle Zeit des Prager Frühlings, zugleich war seine Tätigkeit von kritischen Stimmen begleitet, vor allem aus der tschechischen Gesellschaft. In seinem Fall bewahrheitete sich das heraklitsche „Panta rhei“: Man kann nicht zweimal in denselben Fluss steigen. Der bekannte Publizist und Historiker Milan Hulík erinnert an die Fähigkeiten Dubčeks während des Prager Frühlings, die Volksmassen für sich zu gewinnen:
„Alexandr Dubček unterschied sich körperlich und insbesondere durch seine Gesichtsform, aber auch durch sein Verhalten komplett von allen anderen Spitzenfunktionären der Partei. Dies waren alles Männer ohne Gesichtsausdruck, die schon beim ersten Anblick ein unangenehmes Gefühl provozierten. Die Vorstellung, dass einer dieser Genossen mitten auf der Straße mit einem Normalbürger ins Gespräch kommen könnte, war illusorisch. Dubčeks Lächeln hingegen, seine Verlegenheit oder Menschenscheu, aber auch sein Einfühlungsvermögen, das alles konnte man bei jedem seiner Auftritte vor laufender Kamera sehen. Dadurch wurde er außerordentlich populär. Zum ersten Mal konnte man einen kommunistischen Parteiführer als normalen Menschen sehen.“Über diese Auswirkung von Dubčeks Gesicht, das seinerzeit breite Bevölkerungsmassen an den „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ glauben ließ, sind sich heutzutage nicht nur seine Zeitgenossen, sondern auch viele Historiker einig. Andererseits waren natürlich nicht alle für den Reformkommunismus zu gewinnen. Milan Hulík zählte zu denjenigen Tschechen, die trotz persönlicher Sympathien für Dubček seiner Politik gegenüber misstrauisch eingestellt waren:„Ich habe nicht geglaubt, dass der ‚Sozialismus mit menschlichem Antlitz’ ein Ersatz für wahre Demokratie sein konnte. Ich hielt ihn aber für eine Art Vorstufe zur weiteren Entwicklung, die zu einer Demokratie hätte führen können. Es gab eine Menge ähnlich denkender Zeitgenossen. Zu ihnen gehörte zum Beispiel auch Václav Havel, wie nicht zuletzt auch seinen Memoiren zu entnehmen ist.“
Dubček habe nie über die weitere Entwicklung im Sinne der Demokratie gesprochen, meint Hulík. Er glaubt auch, dass wirkliche Demokratie damals für Dubček „ein absolut fremder Begriff“ war. Davon ist auch der Historiker Oldřich Tůma überzeugt.„Dass er im Januar 1968 zum 1. Parteisekretär der KPTsch gewählt wurde, war das Ergebnis eines Kompromisses zwischen zwei Parteiflügeln - den Parteikonservativen und den reformwilligen Kommunisten. Dubček gehörte nicht zu den radikalen Reformanhängern. Die Vorstellung, dass der Sozialismus oder das kommunistische Regime in der Tschechoslowakei der 1960er Jahre mit der Demokratie hätte vereint werden können, gleicht einer Utopie. Was hierzulande im Frühjahr 1968 vor sich ging, öffnete eher den Weg zur allmählichen Demontage des bestehenden Regimes - wie zum Beispiel in Ungarn nach 1989. Das wünschte sich Dubček offensichtlich nicht, vielmehr eher einen auf einer größeren Rationalität und Effektivität beruhenden Kommunismus. An die Demokratie dachte er im Jahr 1968 ganz bestimmt nicht.“
Wie weit sich Dubček bis 1989 zum Demokraten gewandelt hatte, das bedarf indes weiterer Forschung. Immerhin füllte er bis zum Schluss sein Amt als Parlamentspräsident aus und wurde 1992 sogar zum Vorsitzenden der slowakischen Sozialdemokraten gewählt.Als die Samtene Revolution vom 17. November die Tschechoslowakei von ihren kommunistischen Machthabern befreite, ahnte kaum jemand, dass der Staat nur noch drei Jahre Bestand haben sollte. Doch schon bald schob sich die Frage der weiteren Koexistenz der Tschechen und Slowaken in den Vordergrund. Oldřich Tůma:
„Im November beziehungsweise Dezember 1989 ging es primär um den Widerstand gegen den Kommunismus. Meiner Meinung nach zerbrach sich damals auch in der Slowakei kaum jemand den Kopf darüber, wie sich die tschechoslowakische Föderation verändern und welche größeren Kompetenzen die slowakische Regierung sowie andere slowakische Organe bekommen sollten. Das alles haben erst das Frühjahr 1990 und die nachfolgenden Monate mit sich gebracht.“
Alexander Dubček war nach wie vor ein entschiedener Verfechter des gemeinsamen Staates. Auch ihm gelang es aber nicht mehr, kraft seiner Persönlichkeit die politische Entwicklung aufzuhalten. Als er am 7. November 1992 an Folgen eines Autounfalls starb, war die bevorstehende Teilung der Tschechoslowakei am 1. Januar 1993 bereits besiegelt.