Die Samtene Revolution – ein Rückblick auf den November '89

Gedenkveranstaltung für Jan Opletal in Albertov 1989 (Foto: Archiv der Karlsuniversität in Prag)

Im Nachhinein erhielten die Ereignisse von 1989 die Bezeichnung „Samtene Revolution“. Am Anfang stand jedoch die Gewalt. Ausgerechnet am Internationalen Tag der Studenten ging das kommunistische Regime mit Schlagstöcken gegen eine Studentendemonstration in der Prager Innenstadt vor. In den darauffolgenden Tagen und Wochen formierte sich in der Tschechoslowakei die Opposition.

Gedenkveranstaltung für Jan Opletal in Albertov 1989 | Foto: Archiv der Karlsuniversität in Prag
Freitag, der 17. November 1989. Eine Studentendemonstration bahnt sich den Weg ins Zentrum von Prag. Um 16 Uhr hatte der sozialistische Jugendverband in Albertov eine Gedenkveranstaltung für Jan Opletal eröffnet. Doch statt sie wie geplant zwei Stunden später auf dem Heldenfriedhof Vyšehrad zu beenden, ziehen mehrere Tausend junge Menschen von dort aus weiter. Ihr Ziel ist der Wenzelsplatz. Die Studenten rufen nach Freiheit und fordern den Abschied der politischen Führungsriege. Doch die Polizei stellt sich den Demonstranten entgegen. Auf der Nationalstraße, zwischen Nationaltheater und dem Kaufhaus Máj werden sie eingekesselt. Mit Schlagstöcken prügeln die Polizisten auf die Studenten ein. Die Seitenstraßen sind gesperrt, so dass kein Entkommen möglich ist.

Foto: Archiv der Karlsuniversität in Prag
„Einige Menschen saßen auf dem Boden und streckten die Hände empor, um zu zeigen, dass sie leer seien, dass sie keine Gewalt wollten. Auf sie wurde einfach eingeknüppelt. Die Polizisten haben ohne Rücksicht auf die Menschen eingeschlagen, auf den Kopf, auf die Beine. Einige weinten. Der einzige Weg, der noch blieb, führte durch einen Gang, in dem uniformierte Männer mit roten Baretten standen. Jeder der hinaus wollte, musste durch diese enge Gasse, in der auf uns eingeprügelt wurde. Die Polizisten beschimpften uns als Trottel, wir sollten uns bewegen, damit sie sich nicht bis um Mitternacht mit uns abgeben müssten.“

Foto: Tschechisches Fernsehen
So eine Demonstrantin, kurz nach den Ereignissen. In den Spätnachrichten des staatlichen Fernsehens werden die Vorgänge heruntergespielt.

„Einige der Teilnehmer missbrauchten die Großveranstaltung, um ihren öffentlichen Protest gegen die derzeitige Politik der Partei und der tschechoslowakischen Regierung zum Ausdruck zu bringen. Ihr Beispiel hat eine Mehrheit der Versammelten mitgerissen. In den Abendstunden kam es im Stadtzentrum zu Versuchen, die öffentliche Ordnung zu stören. Einsatzkräfte der Bereitschaftspolizei rückten aus. Nach unseren letzten Informationen mussten sie eingreifen, um die Ruhe und Ordnung aufrechtzuerhalten.“

Foto: Tschechisches Fernsehen
Tatsächlich handelt es sich um mehrere Hundert Verletzte. Zahllose Demonstranten werden festgenommen. Erst am Tag nach der gewaltsamen Niederschlagung erwähnt der Nachrichtensprecher im Tschechoslowakischen Fernsehen die Opfer der Gewalt.

„Während der Abdrängung der Demonstranten aus der Straße wurden 17 Menschen verletzt, es kam außerdem zur Verletzung von sieben Bereitschaftspolizisten. Diese offiziellen Informationen bestätigen auch ausländische Nachrichtenagenturen.“

Dass die Zahl der verletzten Demonstranten weitaus höher liegt, erfährt die Bevölkerung jedoch gerade aus internationalen Medien und von den Augenzeugen. Ein Regime, das auf die eigenen Leute einschlägt – diese Nachricht führt in den nächsten Tagen zu einer Mobilisierung der Massen, die sich die tschechoslowakischen Oppositionellen schon lange wünschen. Die Meldung, es sei auch ein Student zu Tode gekommen, erweist sich später als falsch. Doch da hat sie sich schon weltweit verbreitet. Die Studenten fordern bereits am Samstag die Untersuchung der gewaltsamen Übergriffe. Während einer Versammlung im „Realistischen Theater“ in Prag-Smíchov erklären sich die Theaterleute aus der Hauptstadt solidarisch mit ihnen. Der Schauspieler Tomáš Töpfer verliest eine Erklärung:

„Ihre Forderung unterstützen wir voll und ganz. Wir wenden uns zudem an alle tschechoslowakischen Theater, sich einem einwöchigen Streik anzuschließen, während dem wir statt der Vorstellungen unseren Standpunkt zu diesen Ereignissen erklären und einen Raum für eine breite öffentliche Diskussion zur Verfügung stellen. Zugleich wenden wir uns an alle Mitbürger. Wir sollten uns vor weiterer Gewalt, Blutvergießen und politischer Willkür schützen. Daher schlagen wir vor, für Montag, 27. November, zwischen 12 und 14 Uhr einen Generalstreik auszurufen.“

Miroslav Štěpán  (rechts) | Foto: ČT24
Am Tag zwei nach der Studentendemo bündeln weitere Oppositionelle ihre Kräfte. Václav Havel hatte sich bewusst von den Studentenprotesten ferngehalten, um ihnen nicht die Schau zu stehlen. Erst am Sonntag nach dem „Massaker“, wie die Ereignisse vom 17. November nun genannt werden, kehrt er von seinem Landsitz in Hrádeček nach Prag zurück. In seinem Haus treffen sich unter anderem Alexandr Vondra, Jan Urban und Jiří Hájek. Noch am selben Abend proklamieren die Dissidenten im Činoherní klub die Gründung des „Bürgerforums“ (Občanské forum). Sie verlangen den Rücktritt der für die Gewaltausübung verantwortlichen Politiker Štěpán und Kincl wie auch die Freilassung der politischen Gefangenen. Parallel dazu formiert sich im slowakischen Landesteil unter Führung von Milan Kňažko die Plattform „Öffentlichkeit gegen Gewalt“ (Verejnosť proti násiliu). Als am Montag die Arbeitswoche beginnt, ist die kommunistische Führung des Landes auf einmal mit einer organisierten Opposition konfrontiert. Universitäten und Theater werden bestreikt. Der Vorsitzende der Föderalregierung, Ladislav Adamec, muss Verhandlungen mit dem Bürgerforum aufnehmen. In einer Fernsehansprache wendet sich der Generalsekretär der Kommunistischen Partei, Milouš Jakeš, an das Volk.

Milouš Jakeš  (Foto: ČT24)
„Wie treten Sie denn auf, und was haben sie für ein Programm, diese Gruppen, die in der ersten Reihe der derzeitigen Ereignisse in Prag stehen? Sie wollen einen Teil der Jugend rücksichtslos manipulieren und missbrauchen deren Interessen, um die Sache voranzutreiben. Der Einfluss dieses Wirkens hat sich schon auf einige Teile unserer Künstlerfront ausgewirkt. Unter den Schlagworten von Demokratie und Erneuerung geht es ihnen um nichts anderes, als gegen das Interesse des Volkes um jeden Preis die sozialistische Führung der Tschechoslowakei zu stürzen.“

Václav Havel in November 1989  (Foto: ČT24)
Während Jakeš ein letztes Mal den siegreichen Sozialismus beschwört, hält Václav Havel vom Balkon des Melantrich-Hauses auf dem Wenzelsplatz vor 200.000 Zuhörern zum ersten Mal eine öffentliche Rede. Er präsentiert die Forderungen des Bürgerforums und spielt rhetorisch mit der nationalen Symbolik des Landes, die auch eine demokratische ist:

Wahrheit und Freiheit müssten siegen, so ergänzt Havel die Formel von Jan Hus, die Masaryk einst zum Wahlspruch der Tschechoslowakei erhoben hatte. Was am 17. November als Bewegung von Studenten und Intellektuellen begann, ergreift schnell die ganze Gesellschaft. Hundertausende versammeln sich täglich auf den Straßen und Plätzen. Im ganzen Land gibt es nun Kundgebungen und Demonstrationen. In Bratislava spricht die Symbolfigur des Prager Frühlings, Alexander Dubček, zu den Menschen. In Prag werden die öffentlichen Kundgebungen schließlich vom Wenzelsplatz auf den Letná-Park verlegt, wo über ein halbe Million Menschen zusammenkommen.

Marta Kubišová  (Foto: ČT24)
Dissidenten, Geistliche und bekannte Persönlichkeiten aus Kunst und Kultur richten ihr Wort an die Zuhörer. Zum ersten Mal seit 20 Jahren tritt die Sängerin Marta Kubišová wieder auf. Ihr Lied „Modlitba pro Martu“ war 1968 zum Requiem des Prager Frühlings geworden. Auch die Demonstranten verschaffen ihrer Unzufriedenheit Gehör, mit Gesängen, Sprechchören – und mit ihren Schlüsseln. Das tausendfache Klingeln der Schlüsselbunde soll das Ende des Sozialismus einläuten. Zunächst versucht sich die Führungsriege durchzulavieren. Am 24. November tritt Generalsekretär Jakeš zurück, tags darauf verkündet Staatspräsident Gustáv Husák die Amnestie für die politischen Gefangenen. Einige der Freigelassenen, treten unter großem Jubel auf dem Letná-Park auf. Noch vor dem angekündigten Generalstreik zeigt sich zudem, dass das Regime inzwischen auch den Rückhalt der Arbeiter verloren hat. Martin Peroutka vom Stahlwerk Kladno wendet sich an die Demonstranten.

Martin Peroutka  (Foto: Archiv von Martin Peroutka)
„Liebe Mitbürger. Ich bin Mitglied des Streikausschusses der Poldi-Hütte in Kladno. Der überwiegende Teil der Arbeiter unseres Unternehmens unterstützt die Forderungen des Bürgerforums. Wir stehen hinter den Studenten und Künstlern. Solange unsere Forderungen nicht erfüllt werden, treten wir nicht zurück. Am Montag kommen wir zum Generalstreik.“

Zwei Stunden lang steht das Land am 27. November still. Der Generalstreik trägt das Motto „Ein Ende der Einparteienregierung“. Über drei Viertel der Bevölkerung beteiligen sich. Innerhalb weniger Tage hat sich auch der Duktus der staatlichen Medien verwandelt. Rundfunk und Fernsehen übertragen den Streik live:

„Wir melden uns erneut aus dem Nationaltheater, wo vor fünf Minuten ein Gong verkündet hat, dass sich auch unsere erste Bühne am Generalstreik beteiligt. Wir haben diesen Ort gewählt, weil wir von hier auch aus die Nationalstraße im Blick haben. Von hier ging am 17. November der Impuls aus zu den weitreichenden Ereignissen in unserer Gesellschaft. Wir sehen Menschenmengen, die in das Stadtzentrum strömen. Das ist momentan nicht nur in geographischer Hinsicht der Wenzelsplatz.“

Karel Kryl und Karel Gott  (Foto: Tschechisches Fernsehen)
Nach dem Streik versucht die Staatsführung nochmals zu reagieren. Milouš Jakeš und Miroslav Štěpán werden der Öffentlichkeit als Verantwortliche für die gewalttätige Niederschlagung der Demonstrationen präsentiert und aus der Partei ausgeschlossen. Die Föderalversammlung beschließt, den Marxismus-Leninismus aus der Staatsdoktrin zu streichen, Anfang Dezember verteidigt Präsident Husák eine neue Regierung. Doch das Volk akzeptiert den bloßen Austausch kommunistischer Politiker durch andere Parteikader nicht mehr. Auf dem Wenzelsplatz wird abermals demonstriert. Zum Abschluss der Kundgebung am 4. Dezember singen Karel Kryl und Karel Gott gemeinsam die Nationalhymne. Liedermacher Kryl war erst kurz zuvor aus der Emigration zurückgekehrt, der eigentlich regimetreue Schlagersänger Gott hingegen war umgeschwenkt und hatte die Zeichen der Zeit erkannt. Ihr Duett ist ein Symbol für den breiten Konsens, den der Widerstand gegen die Kommunisten nun gefunden hat. Im Dezember danken Adamec und Husák ab. Eine Übergangsregierung unter Marián Čalfa führt das Land zu freien Wahlen. Ende des Jahres wird Václav Havel zum neuen Präsidenten gewählt. Über den Sprung von der Dissidenz in die politische Verantwortung innerhalb kürzester Zeit äußert sich Havel noch in den Revolutionstagen:

Foto: Archiv des Tschechischen Rundfunks
„Wie man sehr gut weiß, ist mein eigentlicher Beruf Schriftsteller. Aber in einem Land, in dem die politische Kultur ausgetrieben wurde, wird auf eine bestimmte Art und Weise alles zum Politikum. Wenn sich also dieser Schriftsteller bemüht, sein ganzes Leben lang die Wahrheit zu sagen, ohne Rücksicht darauf, ob das der Regierung gefällt oder nicht, dann wird aus ihm notwendigerweise ein politisches Phänomen, ohne dass er Politiker sein will.“

Das Phänomen der Novembertage 1989 ist als Samtene Revolution in die Geschichtsbücher eingegangen. Wenn die Tschechen und Slowaken 25 Jahre später, als nunmehr getrennte Nationen, auf die Ereignisse zurückblicken, erscheint es ihnen fast unglaublich: Die Tage des Umsturzes hatten kein einziges Todesopfer gefordert.