„Wir waren so unerfahren“ – Dissident, Politiker und Philosoph Jan Sokol zur Samtenen Revolution
Jan Sokol ist Professor für Philosophie in Prag, während der kommunistischen Ära gehörte er zur Opposition. Als einer der ersten unterzeichnete er die Charta 77. Nach der politischen Wende ging er dann in die Politik. In den ersten freien Wahlen von 1990 wurde Sokol für das Bürgerforum ins föderale Parlament gewählt. 1998 war er in der tschechischen Interimsregierung Bildungsminister. Zudem kandidierte er für die Nachfolge von Václav Havel als Staatspräsidenten. Erst in der letzten Runde wurde er knapp von Václav Klaus geschlagen. Mit dem Philosophen und Politiker im Folgenden ein Gespräch über die Wendezeit in der Tschechoslowakei und die Entwicklungen in der tschechischen Gesellschaft in den vergangenen 25 Jahren.
„Das Gefühl hat man schon früher gehabt, aber ich muss gestehen, dass ich auch damals noch sehr skeptisch war. Bereits am 28. Oktober fand eine Demonstration statt, die ziemlich gut besucht war, wir waren viele Leute, aber es ist nichts passiert. Deswegen war ich so skeptisch, und die Entwicklung hat mich dann überrascht. Freilich sollte oder konnte man sehen, dass das Regime sich ganz offensichtlich ändert. Eine Woche vorher war zum Beispiel die Heiligsprechung der Agnes von Böhmen, und das wurde vom öffentlichen Fernsehen ohne feindselige Kommentare übertragen. Das wäre früher unerhört gewesen. Solche kleine Zeichen hat es also gegeben, aber dass es so schnell gehen würde, das habe ich nicht geahnt.“
Wo waren Sie denn an jenem 17. November, als die Dinge ihren Lauf nahmen? Was haben Sie gemacht an diesem Tag?„Da bin ich eigentlich das falsche Beispiel. Ich war zu Hause und war sehr skeptisch. Ich hatte einen amerikanischen Journalisten hier wegen eines Interviews. Und als meine Kinder zurückkamen, habe ich gesagt: ‚Na gut, da habt ihr jetzt ein paar abbekommen, aber geschehen wird sowieso nichts.‘ Ich war eben extrem skeptisch.“
Wann haben Sie sich dann dieser Bewegung, dem Bürgerforum angeschlossen? Sie sind ja später, durch die ersten freien Wahlen, ins föderative Parlament eingezogen. Wann beginnt für Sie sozusagen das Engagement?„Ich hatte unter den Leuten sehr gute Freunde. In den ersten Tagen bin ich gleich zum Forum gegangen - aber als ich sah, dass es da genug Menschen gab, bin ich umgekehrt und habe weiter gearbeitet. Ich wollte auch nicht in das erste Parlament nach der Wende, weil es dafür keine echten Wahlen gab. Und für die Wahlen im Juni hat man mich dann auch etwas verführt. Aber ich war von Anfang an bei der Bewegung. Ich bin in viele Städte gefahren, um dort die Foren zu gründen oder bei der Gründung zu helfen. Selbst politisch tätig war ich erst nach den Wahlen 1990.“
In Deutschland, Österreich und der Schweiz sagt den meisten Menschen nur der Name Václav Havel etwas, wenn es um den politischen Umbruch in der Tschechoslowakei geht. Hatte Havel auch Ihrer Meinung diese ganz zentrale Rolle bei der Samtenen Revolution inne?„Ja, davon bin ich fest überzeugt. Auch wenn viele ihn nicht kannten, war er der einzige halbwegs legitime Sprecher der nicht-kommunistischen Mehrheit. Es gab keinen anderen. Und es war, so glaube ich, ein später Erfolg der Charta 77, dass gerade Havel und einige Leute um ihn herum bekannt wurden. Ich kann mir nicht vorstellen, wie das ohne ihn im Jahr 1989 abgelaufen wäre. Er wurde durch ausländische Radiosendungen bekannt und durch die Angriffe hier in den Medien, die ihn als Diener der Kapitalismus beschimpften.“
25 Jahre sind seit der Samtenen Revolution vergangen. Überwiegt bei Ihnen eher eine Zufriedenheit über die Entwicklung in Ihrem Land seither, oder sind Sie doch auch enttäuscht?„Wissen Sie, ich bin zu sehr an all dem beteiligt. Ich bin kein bloßer Beobachter. Ich kann das schwer beurteilen. Ich bin eigentlich nicht enttäuscht, weil ich am Anfang so skeptisch war, weil ich wusste, wie schwierig das sein wird, wie unerfahren wir alle waren. Es gab da Probleme, die noch nie und nirgends gelöst worden sind. Man musste da halt improvisieren. Die Privatisierung zum Beispiel war kein großer Erfolg. Aber heute sind alle klug – damals war es keiner. Ich sah damals auch keine bessere Alternative. Da kann ich nicht sagen, ich wäre enttäuscht. Es scheint, dass die Leute zu schnell vergessen, was damals alles zu bewerkstelligen war. Die Demokratie ist gewissermaßen ein Spiegel der Gesellschaft – und da ist man selbstverständlich enttäuscht, wie immer vor einem Spiegel.“
Gegenpol zu Havel war Václav Klaus. Wenn Sie sich heute die tschechische Gesellschaft anschauen, hat sie dann mehr von Havels Idealen mit zivilgesellschaftlichem Engagement und Solidarität übernommen oder von Klaus´ Vorstellung einer radikal marktorientierten Gesellschaft, wo jeder sein eigenes Glückes Schmied ist?„Das ist für mich jetzt schwierig darüber zu sprechen, weil sich Klaus in letzter Zeit in einer Art und Weise über Havel geäußert hat, die ich gar nicht verstehe. Das ist jenseits jeden Stils, das ist unmöglich. Da ist schwierig von Idealen zu sprechen. Das Schlimmste: Havel war selbstverständlich kein Politiker, er ist zu einem Politiker geworden. Aber in einer normalen Zeit hätte er nie Präsident werden können. Und auch Klaus wäre ohne Havel nie Klaus geworden. Am Anfang war er unfähig, zu einfachen Leuten zu sprechen. Er hat das aber unglaublich schnell gelernt. Und er ist in einem gewissen Sinne ein politisches Genie, das muss man ihm zugestehen. Aber er hat das dann später auf eine sehr bedenkliche Art ausgenutzt. Seine Amnestie kurz vor Ende seiner Amtszeit war ein Hohnlachen auf die Gesellschaft. Es ist schwierig für mich, darüber zu sprechen.“
Wenn ich die Diskussionen in Tschechien verfolge, habe ich das Gefühl, dass immer noch die Frage der Freiheit ganz oben steht für viele vor allem politisch aktive Menschen in diesem Land. Auf der anderen Seite kommt es mir so vor, als ob die Fragen von Rücksicht und – um noch einmal dieses Wort zu benutzen – von Solidarität häufig nicht diskutiert werden. Haben Sie ein ähnliches Gefühl? Und wenn ja: Halten Sie diese Gewichtung noch für zeitgemäß, schließlich ist der Kommunismus doch schon längst überwunden?„Man muss einfach sehen, dass meine Generation und die Generation meiner Kinder die Unfreiheit erlebt haben. Das ist im Westen nicht so. Deswegen wird im Westen, so scheint mir, manchmal Freiheit für so selbstverständlich gehalten, dass das gefährlich ist. Schon der alte Thukydides wusste: Wer sich um seine Freiheit nicht kümmert, wird sie schnell verlieren. Und diese Gefahr besteht, wenn man die verschiedenen populistischen Bewegungen rechts und links sieht. Daher sollte man die Freiheit heute stärker schätzen.“
Und die Fragen von Rücksicht und Solidarität in der tschechischen Gesellschaft…„Da darf man die Aussagen der Politiker nicht so ganz ernst nehmen. Václav Klaus hat zum Beispiel viel über Margret Thatcher geredet, aber seine Politik war keineswegs thatcheristisch. Klaus hat nie an den sozialen Errungenschaften gerüttelt. Wir haben hierzulande ein relativ gut funktionierendes Sozialsystem und Gesundheitswesen, die Schulen sind immer noch kostenlos. Und die Arbeitslosigkeit ist in Tschechien nicht so hoch, zum Teil weil dies wirklich ernst genommen wird. Die Arbeitslosigkeit ist keine statistische Angabe zweiten Ranges, sondern eine wichtige Sache. Klaus´ Rhetorik über Thatcher und Reagan war nur für die Öffentlichkeit bestimmt, besonders die amerikanische. Thatcher und Reagan hätten über dessen Politik nur den Kopf geschüttelt.“
Halten Sie die Feiern zu 25 Jahren Samtener Revolution hier in Tschechien für angemessen? Und wie wichtig ist es, dieses Datum weiterhin in Erinnerung zu behalten?„Als Erinnerung ist das eine Sache meiner Generation und der nachfolgenden. Aber es geht nicht so sehr um damals, sondern um heute. Es ist gut, sich in Erinnerung zu bringen und öffentlich zu sagen, dass eben die Freiheit wichtig ist. Sie ist vielleicht sogar wichtiger als Reichtum oder Macht. Es geht zudem auch um eine gewisse Gleichheit. Die Ideale der Französischen Revolution – Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit - sind weiterhin von Bedeutung. Selbstverständlich können die Menschen nie alle gleich sein. Aber als Ideal muss das in einer anständigen Gesellschaft gelten. Und es ist gut, sich das auch wieder in Erinnerung zu rufen.“