Die Vorratskammer der unteren Zehntausend

Am stärksten sind in meiner Straße die Parkplätze frequentiert, gleich danach kommen die Mülltonnen. Tagtäglich sehe ich sie unten in meiner Straße vorbeiziehen und ihren Stopp an der Sulo-Mülltonne von gegenüber einlegen.

Am späten Abend, wenn alle Katzen grau sind, zieht ein junger Mann vorbei – vielleicht Mitte, Ende 20, nicht verlottert, aber auch nicht ordentlich. Er ist Pedant. Mit Stirnlampe auf dem Kopf, macht er sich ans Werk und lässt mindestens 10 Minuten nicht locker. Seine bloßen Hände fischen jeden Gegenstand einzeln aus jeder Mülltüte. Von Zeit zu Zeit steckt er sich etwas in die Tasche.

Frühmorgens ist die ältere Dame auf den Beinen. Rank und schlank - eine tolle Figur für das Alter, denke ich. In Dreiviertel-Hose und leichtem Top steuert sie schnurgerade und zielbewusst auf die Tonne zu. Mit ihrem kurzgeschnittenen weißen Haar kann ich sie mir gut in Abendgarderobe im Foyer der Prager Staatsoper vorstellen. Ein schneller geübter Blick hinein, die oberste Schicht wird angehoben. - Nichts. Und auf geht´s zur nächsten Mülltonne. Ich habe noch nie gesehen, dass sie etwas gefunden hätte. Das bleibt wohl das Geheimnis der Tonnensucher.

Illustrationsfoto: Julie Elliott-Abshire,  www.sxc.hu
Aufmerksamkeit erregt bei mir ein Team von zwei jungen Männern. Dieser Suchtrupp kommt unregelmäßig, ist dafür aber von hitziger Betriebsamkeit. Sie kennen nur diese eine Tonne von innen, ignorieren alle anderen, schauen fiebrig-gehetzt über die Schulter und reißen dann den Deckel hoch. Zielsicher angeln sie eine durchsichtige Mülltüte heraus. Drei Schritte um die Hausecke, in Deckung gehen zwischen zwei parkenden Autos, dann erst zerren sie die Tüte auf. Weiter geht es mit spitzen Fingern im Schneckentempo. Feinmechaniker, die das Innenleben einer Uhr unter die Lupe nehmen. Am Ende sind es zwei, drei kleine Stückchen irgendwas, die sie einstecken, um dann zügig zu verschwinden. Der Fall ist klar, denke ich: Drogen.

Foto: Luka Rister,  www.sxc.hu
Am Spätnachmittag dann der mit dem schwarzen, geduldigen Hund. Unsere Spitzenzeit: 20 Minuten – er an seiner Tonne, ich an meinem Fenster. An einem dieser Spätnachmittage war in der Nachbarstraße ein Filmteam am Werk. Hitlers Putsch von 1923. Zahlreiche Statisten in NSDAP-Uniformen mit Hakenkreuz. Weil es kein Catering gab, schwärmten alle Nazis aus auf der Suche nach etwas Essbarem. Einer von ihnen verirrte sich in meine Straße und traf auf den Tonnensucher. Beide im Grund auf der Suche nach demselben. Der Blick des Tonnensuchers ließ vom Müll ab und fixierte erstarrt den Nazi. Man hörte es rattern im Gehirn: ´Sind die schon wieder da?!?´ - Er wühlt weiter.

Der Fall ist klar, denke ich bei mir: Wirtschaftskrise - Zeit des Extremismus, Zeit der Gleichgültigkeit.