Historiker Smetana: „Es ist ein Mythos, dass Europa in Jalta geteilt wurde“
Am 8. Mai wird in Tschechien offiziell der Befreiung des Landes von den deutschen Besatzern gedacht. Der Tag ist ein Feiertag. Ein Autorenkollektiv aus tschechischen Historikern hat im vergangenen Jahr über die Befreiung der Tschechoslowakei eine umfangreiche Studie herausgegeben. Sie sagen, dass die Freiheit teuer erkauft war – unter anderem mündete sie ja in der mehr als 40 Jahre währenden kommunistischen Herrschaft. Einer der Autoren ist Vít Smetana vom Institut für Zeitgeschichte in Prag. Mit ihm an dieser Stelle ein Gespräch über Mythen und Fakten beim Weg der Nachkriegs-Tschechoslowakei in die Arme Moskaus.
Herr Smetana, in diesen Tagen begehen die Tschechen den 65. Jahrestag der Befreiung von Hitler. Sie sind Mitautor eines Sammelbandes mit dem Titel „Teuer bezahlte Freiheit“. Vielleicht können Sie unseren Hörern in einigen Sätzen erläutern, was sie mit teuer bezahlter Freiheit meinen.
„Der Titel deutet zwei Sachen an: Zum einen wurde für die Befreiung der Tschechoslowakei mit mehr Toten, Verletzten und Vermissten als nötig gezahlt. Das geht auf die Taktik der Roten Armee zurück. Zum zweiten hat die Befreiung des größten Teils der Tschechoslowakei durch die Rote Armee auf grundlegende Weise dazu beigetragen, dass sich drei Jahre später das kommunistische Regime durchsetzen konnte. In diesem Sinn hat die Tschechoslowakei für die Befreiung vom Nationalsozialismus sehr teuer bezahlt.“
Allgemein sagt man doch, dass die Konferenz in Jalta im Februar 1945 als Weichenstellung für die Teilung Europas nach dem Krieg gilt. Dort sollen der sowjetische Diktator Stalin, US-Präsident Franklin D. Roosevelt und der britische Premier Winston Churchill festgelegt haben, dass große Teile Mitteleuropas und ganz Osteuropa unter den Einfluss Moskaus kommen – dazu gehörte auch die Tschechoslowakei. Ihre Forschungen haben aber ein differenzierteres Bild ergeben?„Es ist ein Mythos, dass in Jalta Europa geteilt wurde. Vor allem wurden dort Verhandlungen über die Zusammensetzung der polnischen Regierung geführt, das war auch der Stein des Anstoßes in den Beziehungen der Alliierten zueinander. Es wurde ein Kompromiss erzielt, der tatsächlich eher den sowjetischen Vorstellungen entsprach. Aber der wurde ermöglicht durch die Versicherung Stalins, dass innerhalb eines Monats freie Wahlen in Polen ausgerufen werden. Wir wissen, dass dies nicht geschah – und der Kompromiss von Jalta über die Zusammensetzung der polnischen Regierung erst im Juli 1946 erfüllt wurde. Diese Punkte betrafen konkret Osteuropa. Aber es gab in Jalta keine Aufteilung der Machtbereiche. Und was wenig bekannt ist und dem Bild in den Medien entgegensteht: Die Tschechoslowakei wurde in Jalta praktisch überhaupt nicht erwähnt.“
Was führte denn dann dazu, dass die Tschechoslowakei letztlich in den Ostblock und auf eine kommunistische Regierung zustrebte?„In gewisser Weise strebte die Tschechoslowakei schon früher in den Ostblock, zugleich war damals noch nicht abzusehen, dass eine Art Ostblock entsteht. Grundlegend waren die geopolitischen Überlegungen des Exil-Präsidenten Edvard Beneš, die von seinen Mitarbeitern und natürlich auch von den Kommunisten geteilt wurden. Es ging darum, dass die Tschechoslowakei für die Zukunft ihre Sicherheit auf festere Grundlagen stellen müsse als in der Zwischenkriegszeit. Der Blick auf die Landkarte zeigte ihm, dass die einzige wirkliche Garantie die Sowjetunion sein könne. Das führte zur Unterschrift unter einen tschechoslowakisch-sowjetischen Vertrag im Dezember 1943. In Artikel vier verpflichten sich beide Seiten indes, jeweils nicht in die inneren Angelegenheiten des anderen Staates einzugreifen, dass heißt vor allem die Sowjets nicht in innertschechoslowakische Angelegenheiten. Was sich dann bei der Befreiung abgespielt hat, steht auf einem anderen Blatt. Der Vertrag an sich bedeutete aber nicht unausweichlich den späteren Antritt des kommunistischen Regimes. Gesagt wurde aber im Vertrag, dass die Tschechoslowakei ihre Außenpolitik an der Sowjetunion ausrichten werde. Das wurde dann in den folgenden Entscheidungen und internationalen Auftritten bis zum Jahr 1947 immer wieder bestätigt. Den Höhepunkt bildeten die Verhandlungen über den amerikanischen Marshall-Plan, als Prag unter Druck aus Moskau nicht teilnahm und damit das Signal setzte, dass die Tschechoslowakei in der Außenpolitik kein eigenständiger Staat ist.“
Sie sprechen in Ihrem Buch auch von innenpolitischen Fehlern. Die nicht-kommunistischen Parteien haben doch den Einfluss der Kommunisten mit eigenen Augen wachsen sehen…
„Die nicht-kommunistischen Parteien haben vor allem 1944 und Anfang 1945 eine Reihe von Fehlern begangen. Benešs Vorstellung war, das politische System zu vereinfachen und die Zahl der Parteien zu verringern. Heutzutage wird eine gewisse Handlungsfähigkeit des Parlaments durch die Fünfprozentklausel geregelt. Damals wurde stattdessen vorgeschlagen, die Zahl der Teilnehmer am politischen Wettstreit nach dem Krieg auf einige bestimmte Parteien zu beschränken, und das auch noch in einem durch die Bildung einer Nationalen Front begrenzten Wettbewerb. Das wurde alles in den ersten Monaten des Jahres 1945 ausgehandelt. Den nicht-kommunistischen, demokratischen Parteien gefiel vor allem, dass die Agrarier nicht zum politischen Wettbewerb zugelassen wurden, weil diese in der Zwischenkriegszeit die stärkste politische Kraft gewesen waren. Vor allem die Nationalen Sozialisten um Beneš nahmen automatisch an, dass sie nun die Mehrheit der Wähler hinter sich vereinigen können. Aber das Gegenteil war der Fall, weil die Kommunisten den wichtigen Posten des Landwirtschaftsministers bekamen. Dieser tat dann so, als sei er es, der den Boden deutscher Grundstücke nach der Vertreibung verteile.“
Haben die demokratischen Politiker nicht versucht, den wachsenden Einfluss der Kommunisten zu stoppen?„Den demokratischen Politikern wurde das nach und nach natürlich auch bewusst. Häufig war es dann aber schon zu spät. Sie haben nicht weit genug vorausgeschaut. Auch bei den Verhandlungen in Moskau ab 1943 haben sie eine Reihe Fehler begangen. So zog sich Beneš, der sich selbst als demokratischen Diktator im Exil bezeichnete, von den Verhandlungen zurück und ließ schlecht vorbereitete demokratische Politiker auf sehr gut vorbereitete und taktisch geschickte Kommunisten treffen, die ihre programmatischen Thesen mit den Sowjets konsultierten und wussten, was sie wollten. Die Demokraten fuhren dezimiert nach Moskau, und Moskau als Ort spielte natürlich auch schon den Kommunisten in die Karten. Rybka als fähigster Politiker blieb in London und Šrámek hatte kein Interesse an den Gesprächen über das politische Programm der Nachkriegsregierung. Aus dem Tagebuch eines anderen Politikers ist bekannt, dass sich Šrámek vor allem darum sorgte, genügend Wein auf dem Zimmer zu haben und Beneš empfahl, es ihm gleichzutun und sich aufs Bett zu legen. Die Demokraten gaben ein äußerst bizarres Bild ab bei den entscheidenden Gesprächen über die Form der Demokratie in der Nachkriegszeit.“
Ich möchte noch einmal auf die militärische Seite der Befreiung zurückkommen. Die amerikanischen Truppen rückten ja von Westen an, am 5. Mai hatten sie Plzeň / Pilsen eingenommen. Hier in Tschechien heißt es häufig, die Amerikaner hätten aus politischen Gründen gar nicht bis Prag weiterrücken wollen. Lässt sich diese These halten?„Es war genau andersherum. In der tschechischen Öffentlichkeit wird es meist so dargestellt, dass die Amerikaner nicht bis Prag weitergerückt seien, weil die Stadt schon der Sowjetunion zugeteilt worden war. Doch die Amerikaner hätten am 7. Mai durchaus Prag erreicht, wenn sie nicht von der sowjetischen Führung gestoppt worden wären. Es gab da eine Korrespondenz zwischen dem amerikanischen General Eisenhower und dem sowjetischen Generalstabschef Antonow. Am 4. Mai schlug Eisenhower vor, dass die Amerikaner bis zur Linie Elbe-Moldau vorrücken. Antonow hat dies am folgenden Tag mit dem falschen Argument abgelehnt, dass die Militäroperation in Prag bereits begonnen hätte und eine Vermischung der Truppen drohte, bei der beide Seiten womöglich aufeinander schießen. Die Amerikaner blieben also vor den Toren der Stadt. Eisenhower wurde dabei gestützt von George Marshall als Chef des Generalstabs, der in keinem Fall Menschenleben aus rein politischen Gründen aufs Spiel setzte wollte. Es ist also genau umgekehrt, als dies die tschechische Öffentlichkeit meist sieht. Die oberste Leitung der amerikanischen Streitkräfte war nicht gewillt, politische Argumente zu akzeptieren und sich nach ihnen bei den strategischen Entscheidungen zu richten. Sie führten den Krieg, um einfach den Feind zu besiegen. Und in diesem Fall sahen die Amerikaner, dass die Rote Armee dies übernimmt - die Politik spielte dabei keine Rolle.“