Der Mythos vom ‚rasenden Reporter’ – zum 125. Geburtstag von Egon Erwin Kisch
Als ‚rasender Reporter’ hat er Geschichte(n) geschrieben – der Journalist Egon Erwin Kisch. Aufgewachsen im Prag der Habsburger Zeit, im legendären Kreis Prager deutschsprachiger Schriftsteller wie Franz Kafka, Rainer Maria Rilke, Max Brod. Klassischer bürgerlicher Linksintellektueller, Schöpfer der ‚literarischen Reportage’ und einer der bedeutendsten Seismographen seiner Zeit. Und schon zu Lebzeiten eine Art Mythos. Am 29. April wäre Egon Erwin Kisch 125 Jahre alt geworden. Silja Schultheis hat sich mit dem Kisch-Kenner Dr. Marcus Patka, Kurator im jüdischen Museum Wien, über den Journalisten, Menschen und Mythos Kisch unterhalten.
Silja Schultheis: Herr Dr. Patka, Egon Erwin Kisch hat über sich selbst einmal gesagt: „Ich stamme aus Prag, ich bin Tscheche, ich bin Deutscher, ich bin Jude, ich bin Kommunist, ich komme aus einem guten Hause - irgendetwas davon hat mir immer geholfen.“ Charakterisiert dieses Bonmot den Journalisten und Menschen Kisch in Ihren Augen treffend?
Dr. Marcus Patka: Ich denke schon, weil Kisch in seinem Leben ja wirklich um die Welt gefahren ist und viele Seelen in seiner Brust vereinigt hat, kann man sagen. Und er war ja auch Internationalist, politisch gesehen, aber wenn man sich dieses Wort genauer anschaut, dann heißt es eigentlich, dass man den zwischenstaatlichen Zusammenschluss anstrebt. Also eigentlich ein moderner Weltenbürger, kann man sagen. Und insofern glaube ich, ist das doch eine treffende Selbstbeschreibung.
Silja Schultheis: Kisch gilt als einer der bedeutendsten Seismographen seiner Zeit – In dem 1924 erschienen Reportageband der „Rasende Reporter“ hat er sich das Image von einem ständig und überall präsenten Beobachter geschaffen. Im Vorwort zu dem Buch legt Kisch die noch heute im Journalismus viel zitierten Maßstäbe eines unvoreingenommenen Berichterstatters fest: „Der Reporter hat keine Tendenz und keinen Standpunkt“, heißt es da. Kisch hat aber sehr wohl Position bezogen – Er war ein Paradebeispiel eines bürgerlichen Linksintellektuellen der 20er Jahre, mit starken Sympathien für den Kommunismus. Und auch mit seinen Reportagen verfolgte Kisch ein klares gesellschaftspolitisches Anliegen. Ist die Definition ‚tendenzloser Reporter’ also ein Mythos?Dr. Marcus Patka: Diese Definition ist zweifellos ein Mythos, ein selbstgeschaffener Mythos. So wie Kisch ja generell sein Leben sehr stilisiert hat. Dieser ‚rasende Reporter’ ist nichts anderes als eine Kunstfigur. Er selber war das zwar vordergründig, aber eigentlich war er das genaue Gegenteil davon. Weil er sehr langsam geschrieben hat, seine Texte immer wieder umgeschrieben, geändert hat, was ja eigentlich das Kennzeichen eines Schriftstellers und nicht eines Journalisten ist. Und er hat zweifellos versucht, auf dem Markt zu reüssieren, das ist ja ganz klar. Die Titel seiner Bücher sind immer sehr reißerisch und sicherlich ans Journalistische angelehnt. Aber wenn man dann tiefer hineinschaut, dann merkt man, dass das mit dieser Tendenzlosigkeit ja eigentlich nur eine Ironie war. Er führt absichtlich den Leser hinters Licht. Denn wenn man Kisch-Texte liest, dann sieht man ja ein sehr starkes soziales Engagement. Weil er ja durch seine Arbeit, seine Texte, seine Literatur wirklich die Welt verändern wollte. Das will der Journalist vielleicht auch manchmal. Aber der Journalist ist ja vielleicht doch eher Berichterstatter und hat einfach auch weniger Standpunkt. Kisch hat ganz klar seinen Standpunkt. Und in späteren Texten hat er das ja auch immer wieder konterkariert, dieses frühe Vorwort zum ‚Rasenden Reporter’ von 1924.Silja Schultheis: Wie würden Sie diesen Standpunkt definieren – war es ein politischer?
Dr. Marcus Patka: Auf jeden Fall. In den späteren theoretischen Texten zur Reportage sagt er ja, er möchte ein anklägerisches Kunstwerk machen und die Aufgabe der Kunst sei es eigentlich, auf Misstände in der Gesellschaft, in der Politik auf der ganzen Welt hinzuweisen. Und da muss man ja gar nicht weit gehen. Man kann es vor der Haustür finden, man kann es aber genauso in Afrika oder Australien finden, oder in Mexiko, wo immer er hingekommen ist.
Silja Schultheis: Vor der Haustür, in Prag, seiner Heimatstadt hat Kisch auch angefangen. Er hat, nachdem er die journalistische Ausbildung auch in Berlin gemacht hat, in Prag seine ersten Reportagen geschrieben. Wie hat er denn die gesellschaftlichen Zustände Anfang des 20. Jahrhunderts in Prag beschrieben?
Silja Schultheis:Dr. Marcus Patka: Naja, er hat sich wohl schon dadurch von anderen Journalisten seiner Zeit abgehoben, dass er wirklich zu den untersten sozialen Schichten gegangen ist – zu den Flößern, zu den Arbeitslosen, zu den Dirnen. Und hat sich da auch so ein bisschen wie ein früher Günter Wallraff quasi auch verkleidet, um als Gleicher anerkannt zu werden und wirklich an die Wurzel der Sache heranzukommen und eben nicht nur ein äußerer Beobachter zu sein, der als solcher gleich erkannt wird.Silja Schultheis: Kisch hat einen großen Teil der 20er Jahre, eigentlich bis zur nationalsozialistischen Machtergreifung in Berlin verbracht. Das Exil hat ihn dann nach Westeuropa, Mexiko, auch Australien verschlagen. Nach dem Krieg ist er wieder nach Prag zurückgekehrt und hier dann auch gestorben, 1948. Welche Bedeutung hatte denn Prag in Kischs Leben?
Dr. Marcus Patka: Naja, Prag war sicherlich die große sentimentale Liebe, kann man sagen. Einerseits weil er eben Prag als junger Reporter in seinen hintersten Winkeln durchforscht hat, und weil seine Familie, seine Mutter dort noch gelebt hat. Er war dieser Stadt sicherlich ganz, ganz stark verbunden. Und nach Berlin ist man natürlich gegangen, weil dort das Zentrum war, dort war auch der literarische Markt. Und überhaupt eben die künstlerische Avantgarde dieser Zeit. Aber er ist eigentlich zwischen Berlin und Prag gependelt, in den 1920er Jahren, aber auch in den 1930er Jahren, als das noch möglich war. Naja, und nach dem Krieg war das natürlich das Erste – zurückzukommen und zu schauen, wer ist denn überhaupt noch da? Aber für ihn war das schlimm: Er, der ja immer für die Aussöhnung zwischen Tschechen und Deutschen war und ja auch diese zwei Seelen in seiner Brust hatte, war dann wirklich schockiert, als er zurück kam. Er wurde zwar noch groß empfangen von alten und neuen Freunden. Aber wir alle kennen ja die Geschichte - nach dem Krieg war es ja fast unmöglich, in Prag auf der Straße ein deutsches Wort zu sprechen, ohne Gefahr zu laufen, beleidigt zu werden. Und das war das Gegenteil von dem was er kannte, wie er seine Heimatstadt geliebt hat, als Metropole Mitteleuropas, die weltoffen war nach allen Seiten hin - das war Prag halt nach dem Krieg leider Gottes nicht mehr.Silja Schultheis: Worin sehen Sie heute die Aktualität von Egon Erwin Kisch – Sie haben sich ja viel mit ihm beschäftigt, auch Ausstellungen über ihn gestaltet…Dr. Marcus Patka: Also ich sehe ihn wirklich als modernen Weltbürger, wie ich schon gesagt habe. Als jemanden, der all die verschiedenen Strömungen seiner Zeit gesehen hat, beobachtet hat, aber trotzdem seine klare Linie hatte. Und unabhängig von der Ideologie war es eben sein Anliegen, die ganze Welt ein Stückchen kleiner zu machen, greifbar zu machen.