Ein Hauch von Geschichte

Aldo Moro
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Sie gehören zum kollektiven Gedächtnis Europas: Die Bilder des deutschen Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer und des ehemaligen italienischen Ministerpräsidenten Aldo Moro vor den Logos ihrer Entführer. Schleyer war 1977 von der RAF entführt und ermordet worden, Moro 1978 von den Roten Brigaden. Dieser Tage tauchten beide wieder einmal in den tschechischen Zeitungen auf.

Aldo Moro
Das „Amt zur Dokumentation und Untersuchung der Verbrechen des Kommunismus“, das zur tschechischen Polizei gehört, interessiert sich neuerdings für eine mögliche Beteiligung des tschechoslowakischen Geheimdienstes an der Entführung von Aldo Moro. Terroristen der Roten Brigaden könnten in der Tschechoslowakei ausgebildet worden sein, heißt es. Es gibt sogar Spekulationen, wonach Moro in der tschechoslowakischen Botschaft in Rom gefangen gehalten wurde. (Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass es andernorts auch Spekulationen über eine Verwicklung der amerikanischen CIA gibt, mit dem Ziel, die italienischen Kommunisten zu schwächen.)

Entführung von Hanns Martin Schleyer
Hanns Martin Schleyer wiederum machte jüngst durch eine Neuigkeit am deutschen Buchmarkt von sich reden: „Villa Waigner – Hanns Martin Schleyer und die deutsche Vernichtungselite in Prag 1939–1945“. Das Buch von Erich Später ist im Oktober im Hamburger Konkret Verlag erschienen. Eine tschechische Tageszeitung griff das Thema nun auf und berichtete ausführlich von Schleyers Karrierestart als Nazi-Funktionär im besetzten Prag.

Der Prag-Korrespondent einer Schweizer Tageszeitung merkte neulich an, dass die Tschechen alles und jedes auf ihre Geschichte beziehen. Der Kollege hat Recht: Die Schlacht am Weißen Berg aus dem Jahr 1620 wird beim alltäglichen Wirtshaustratsch zum Kern der tschechischen Identität. Präsident Václav Klaus bekommt mit einem Hinweis auf die Beneš-Dekrete aus dem Jahr 1945 Zustimmung dafür, dass die EU-Grundrechtecharta aus dem Jahr 2000 in Tschechien künftig nicht gelten soll.

Barack Obama
Und so gut wie noch jedem US-amerikanischen Präsidentschaftskandidaten und Präsidenten der letzten 20 Jahre wurden familiäre Wurzeln in Böhmen oder Mähren nachgewiesen – einschließlich Barack Obama.

Wird hier das historische Geltungsbedürfnis eines kleinen Landes laut? Oder ist Tschechien mit seiner geopolitischen Lage tatsächlich so etwas wie ein Kreuzungspunkt der Weltgeschichte? Wahrscheinlich ist an beidem etwas dran. Aus vielen Reaktionen wissen wir jedenfalls, dass auch für Sie, also unsere Hörerinnen und Hörer, die tschechische Geschichte zu den interessantesten Kapiteln unseres Programms gehört – auch wenn wir Barack Obama dabei nicht gleich zum Tschechen machen.