Was geschah 1989? Zwei neue Bücher zum demokratischen Wandel

Nicht nur in Tschechien waren in den letzten Tagen die Zeitungen voll mit Erinnerungen an die politische Wende vor 20 Jahren. Ganz Europa dachte an die demokratischen Umwälzungen des Jahres 1989 und an den Fall des Eisernen Vorhangs. Auch Bücher sind anlässlich des Jubiläumsjahres erschienen, unter anderem im deutschsprachigen Raum. Zwei davon möchten wir Ihnen hier vorstellen: Eines, das sich ausschließlich mit der Samtenen Revolution in der ehemaligen Tschechoslowakei befasst, und eines, das den Sturz der Diktaturen in ganz Osteuropa und sogar in Lateinamerika nachzeichnet.

Die Samtene Revolution: Anlässlich ihres 20. Jubiläums steht sie in Tschechien ganz im Zentrum der medialen Aufmerksamkeit. Altbekannte Fakten, neu entdeckte Details und nie bewiesene Verschwörungstheorien verschwimmen dieser Tage zu einer gigantischen Rückblende in die jüngere Vergangenheit. Einen guten Überblick über die verschiedenen Blickwinkel zum November 1989 gibt der Sammelband „Die Samtene Revolution. Vorgeschichte – Verlauf – Akteure“, erschienen im Frankfurter Peter Lang Verlag. Mitherausgeber Niklas Perzi:

„Wir haben Autoren aus Deutschland, der Slowakei, Tschechien und Österreich. Aber viel wichtiger als die regionale Herkunft ist, dass wir uns bemüht haben, nicht nur Wissenschaftler zu Wort kommen zu lassen, sondern auch Akteure von damals, aus den verschiedensten Spektren. Von Václav Žák, der damals Mitstreiter von Havel war, über Čestmír Císař, einen bekannten Reformkommunisten aus der Zeit von 1968, Emanuel Mandler, einen bekannten Havel-Gegner aus dem bürgerlichen Spektrum, bis hin zu journalistischen Beobachtern aus Österreich und Ungarn.“

Was sind die Hintergründe des 17. November 1989, also der ersten großen Studentendemonstration in Prag, die von der Polizei noch brutal niedergeknüppelt wurde? Die Meinungen darüber könnten kaum unterschiedlicher sein, meint Perzi:

„Wir haben in dem Buch einen Beitrag von Rudolf Hegenbart, der damals im Zentralkomitee der KSČ Chef der Abteilung für Staatssicherheit, Armee und Justiz war. Er sagt, das war eine Verschwörung des Geheimdienstes gemeinsam mit Havel gegen die reformorientierten Kräfte in der Partei. Dann haben wir Leute, die wiederum sagen, das war eine Verschwörung des Geheimdienstes mit den Reformorientierten gegen die alte Jakeš-Führung. Die verschiedensten Geheimdienst-Theorien werden wahrscheinlich so lange nicht geklärt sein, bis wirklich Akten auftauchen, die absolute Gewissheit geben können. Wahrscheinlich sind diese Akten aber schon vernichtet, und die Zeugen, die darüber Bericht erstatten könnten schweigen entweder, oder sie sind schon lange gestorben.“

Eines der größten Geheimnisse des 17. November ist bis heute der angebliche Tod des Studenten Martin Šmíd – eine bewusste Fehlinformation, wie sich später herausstellte.

„Eigentlich hat man sich ja nur den Namen von diesem Martin Šmíd geborgt. Der, der Martin Šmíd gespielt hat, war ja ein StB-Agent mit dem Namen Zifčák, der heute Vorsitzender einer radikalkommunistischen Splitterpartei ist. Das ist also auch ein eher kurioser Aspekt. Ich glaube, da werden alte Theorien wieder neu aufgewärmt. Was aber heute immer wieder von Historikern betont wird: Auch ohne diesen Martin Šmíd, auch ohne das Eingreifen der Polizei am 17. November, wäre es früher oder später in der Tschechoslowakei zum Fall des kommunistischen Regimes gekommen“, so Perzi.

Eine zentrale Rolle in der Samtenen Revolution spielten jedenfalls zwei Männer: Václav Havel, der tschechische Dramatiker und Dissident, und Alexander Dubček, der slowakische Reformer, der 1968 an der Spitze des so genannten Prager Frühlings stand und für einen Sozialismus mit menschlichem Antlitz kämpfte, bis die Panzer der Warschauer-Pakt-Staaten die Reformbewegung jäh zum Stillstand brachten. Havel wurde später Staatspräsident, Dubček „nur“ Parlamentspräsident. Niklas Perzi zur Besetzung des höchsten Amtes Ende 1989:

„Die Richtung war eindeutig pro Havel, weil man befürchtet hat, dass mit Dubček eine Wiederaufnahme des sozialistischen Reformversuchs von 1968 erfolgen würde. Das wollte man mit allen Mitteln verhindern. Man hat sich deshalb sogar des kommunistischen Ministers und späteren Ministerpräsidenten Marián Čalfa bedient, der die kommunistischen Abgeordneten, die ja nach wie vor im Parlament saßen, davon überzeugt hat, einstimmig Havel zum Präsidenten zu wählen. Dubček ist mehr oder weniger auf ein Nebengleis abgeschoben worden.“


Erhard Stackl  (Foto: Autor)
Einen gänzlich anderen Blickwinkel nimmt das Buch „1989, Sturz der Diktaturen“ von Erhard Stackl ein, erschienen beim Czernin Verlag in Wien. Stackl, heute Chef vom Dienst bei der österreichischen Tageszeitung Der Standard, hat darin seine journalistischen Erfahrungen aus Osteuropa, vor allem Polen, und Lateinamerika verarbeitet, wo er in den achtziger Jahren als Korrespondent tätig war. Die Unterschiede zwischen den rechten Diktaturen in Lateinamerika und den kommunistischen Diktaturen in Osteuropa waren zunächst groß, so Stackl:

„Wenn man als Angehöriger der Ober- oder Mittelschicht in Argentinien oder Chile gelebt hat und nicht politisch aktiv war, konnte man ableugnen, dass hier etwas nicht in Ordnung ist. Sowohl bei den Tätern als auch bei den Opfern handelte es sich um eine begrenzte Zahl von Menschen, und viele andere, sozusagen die normalen Leute, haben das weggeschoben. Die haben gesagt: Wir sind ein gewöhnliches Land, lasst und bitte in Ruhe mit dieser hässlichen Propaganda gegen unsere Regierung. Als Journalist, der dort hingekommen ist, bekam man das viele Male zu hören. Im so genannten realen Sozialismus hingegen war es ja doch gefordert, dass jeder mitmacht.“

Andererseits: In Südamerika verschwanden Oppositionelle massenweise in Folterlagern der Militärregierungen, viele von ihnen tauchten nie wieder auf. In der Tschechoslowakei hingegen war Stackl oft von der doch recht freimütig geäußerten Kritik überrascht. Etwa Mitte der achtziger Jahre im Zuge einer Recherche in der Brauerei Budweis:

„Ich habe dort mit einem Cheftechniker gesprochen, und der hat sich bitter beklagt. Er sagte, sie brauchen dort die neuesten Maschinen aus dem Westen, und sie exportieren auch in den Westen. Aber sie können nicht einfach das Bier im Westen verkaufen und dafür Maschinen importieren, sondern sie müssen die Einnahmen beim Staat abliefern und dann beim Planungsministerium einen Antrag stellen, wenn sie eine Maschine brauchen. Und die wird ihnen dann genehmigt oder nicht. Dieser Techniker hat keine politische Kritik geübt, aber er hat sich in Sachfragen offen kritisch geäußert.“

Dennoch habe während der gesamten achtziger Jahre in der Tschechoslowakei eine Atmosphäre der Aussichtslosigkeit geherrscht, erinnert sich Stackl.

„Bis ins Jahr 1989 hinein, wo Václav Havel in den (im Untergrund erschienen, Anm.) Lidové noviny gesagt hat: Jetzt wird es Zeit, nicht mehr in den herkömmlichen Kategorien zu denken, demnächst müssen wir wahrscheinlich Verantwortung übernehmen. Da haben bei mir die inneren Alarmglocken geläutet, und ich habe mir gedacht: Jetzt geht’s los. Das war Mitte des Jahres oder noch im Frühjahr 89. Wann es genau war, weiß ich nicht mehr, aber jedenfalls lange vor diesen berühmten Novembertagen.“

Hat sich 20 Jahre später, beim Schreiben des Buches, aus den Mosaiksteinen der Erinnerung ein neues Bild zusammengesetzt?

„Am Schluss, und das habe ich auch als Resümee geschrieben, ist schon ein neues großes Design für mich herausgekommen.“

Die antikommunistischen Dissidenten in Osteuropa, sagt Stackl, wollten zunächst mehr Freiheit von den Systemzwängen, gleichzeitig gab es unter ihnen aber auch nationalistische, manchmal sogar antisemitische Strömungen. In Lateinamerika führten indes linksrevolutionäre Gruppierungen einen Kampf gegen die Besitzverhältnisse im Land, einen Kampf gegen die von den Militärs zementierte ungleiche Verteilung zwischen der Oberschicht und den verzweifelten Bewohnern der Armenviertel. Die Revolutionäre träumten etwa von einem Sozialismus nach dem Vorbild Jugoslawiens – wirkliche Demokraten waren auch sie meistens nicht. Erst mit der Zeit seien die Forderungen der Opposition auf beiden Seiten einander ähnlicher geworden, so Stackl:

„Erstens Rechtsstaat, zweitens freie Wahlen, weiter ein akzeptables Erziehungssystem, Umweltschutz, soziale Gerechtigkeit und so weiter. Das konnten 1989 alle unterschreiben. Es gab erste freie Wahlen in Chile, und die, die dort gewonnen haben, ein Bündnis aus Christ- und Sozialdemokraten, die hatten genau dasselbe Programm wie das Bürgerforum in der Tschechoslowakei oder die Solidarnosc in Polen. Es war eine große Zeit für die Menschenrechte, für die Grundrechte, wie wir sie auch heute noch als die essentiellen verstehen.“


Niklas Perzi, Beata Blehová, Peter Bachmaier (Hg.): Die Samtene Revolution. Vorgeschichte – Verlauf – Akteure. Peter Lang Verlag, 2009

Erhard Stackl: 1989, Sturz der Diktaturen. Czernin Verlag, 2009