Jaroslav Seifert - der Schriftsteller als Gewissen des Volkes
Der erste und einzige tschechische Nobelpreisträger für Literatur, Jaroslav Seifert, spricht 1956 auf dem Zweiten Schriftstellerkongress in der damaligen Tschechoslowakei über das Selbstverständnis und die Verantwortung des Schriftstellers - und über seinen Platz und seine Aufgaben im Sozialismus.
„Sind wir wirklich nur Produzenten von Versen, Rhythmen und Metaphern? Sind wir wirklich nur Geschichtenerzähler und nicht mehr, dass wir wirklich nur an Fragen unseres Schriftstellerstandes denken? Es ist wunderschön, wenn Schriftsteller die Politiker voranschubsen, aber minder schön, wenn es umgekehrt ist.“
Jaroslav Seifert, geboren 1901, ist einer der wichtigsten Repräsentanten der tschechoslowakischen Avantgarde. Er stammt aus ärmlichen Verhältnissen, tritt in jungen Jahren der Kommunistischen Partei bei. Mitglied ist er keine zehn Jahre, denn 1929 wird er mit weiteren führenden kommunistischen Schriftstellern aus der KP ausgeschlossen. Der Grund: Seifert hatte ein Manifest gegen die Bolschewisierung in der neuen tschechoslowakischen Parteispitze unterschrieben. Trotzdem erhält er weitere Preise und Auszeichnungen und wird in den Rang eines Nationalkünstlers erhoben.
In seiner Rede beim Zweiten Schriftstellerkongress 1956, zwischen Stalinismus und Tauwetter, betont er ausdrücklich die Verantwortung des Schriftstellers in der Gesellschaft:
„Nicht nur einmal wurde hier bereits angemerkt, dass der Schriftsteller das Gewissen seiner Nation darstellt. Das ist kein neuer Gedanke, im Gegenteil. Und gerade heute möchte ich sagen: Wären wir Schriftsteller doch gerade in der Gegenwart das Gewissen unserer Nation! Wären wir doch das Gewissen unseres Volkes! Denn glaubt mir, ich fürchte, dass wir dieses Gewissen schon seit einigen Jahren nicht mehr gewesen sind, dass wir nicht das Gewissen der Volksmenge, nicht das Gewissen von Millionen, dass wir noch nicht einmal unser eigenes Gewissen gewesen sind. Der neue Ausschuss und Ihr alle solltet Euch darum kümmern, dass unsere Taten des sozialistischen Programms und sozialistischen Schriftstellern würdig sind und so schnell wie möglich in die Tat umgesetzt werden. So schnell wie möglich heißt heute, auf der Stelle.“
Die oberste Maxime für einen Schriftsteller sei es, die Wahrheit zu schreiben. In den vergangenen Jahren sei das aber häufig nicht der Fall gewesen, kritisiert Seifert:
„Wieder und wieder haben wir hier aus den Mündern von keineswegs Bedeutungslosen gehört, es sei wichtig, dass der Schriftsteller die Wahrheit schreibt. Das heißt für mich, dass die Schriftsteller der vergangenen Jahre nicht die Wahrheit geschrieben haben. Haben sie die Wahrheit geschrieben oder nicht? Freiwillig oder unfreiwillig? Bereitwillig oder unwillig? Ohne Begeisterung oder mit inniger Zustimmung? Wenn jeder andere die Wahrheit verschweigt, so kann das ein taktisches Manöver sein. Wenn aber der Schriftsteller die Wahrheit verschweigt, dann lügt er!“
Genau 20 Jahre später wird Seifert zu einem der ersten Unterzeichner der Charta 77. In der Folge wird er gezwungen, sich in die Abgeschiedenheit zurückzuziehen. Seifert kann praktisch nicht mehr veröffentlichen, und seine Werke erscheinen nur noch im Samisdat. 1984 erhält Jaroslav Seifert den Nobelpreis für Literatur. In den tschechoslowakischen Medien wird das jedoch nur am Rande erwähnt – nicht Parteikonforme bekommen keine positive Presse. Im Januar ´86 stirbt der Nobelpreisträger. Da sein Begräbnis droht, zu einer antikommunistischen Kundgebung zu werden, wird Seiferts Familie von den Vorbereitungen für die Beisetzung ausgeschlossen. Die Beerdigung erfolgt schließlich unter Aufsicht der Staatssicherheit.