Brutale Poesie und märchenhafte Schönheit – durch Prag mit der Linie 22
Die Linie 22 dürfte wohl die bekannteste Prager Straßenbahnlinie sein. Jakob Böttcher hat sich auf die Fahrt begeben und die wechselhaften Facetten der Moldaumetropole beobachtet. Zudem hat er mit dem tschechischen Autor Jaroslav Rudiš gesprochen, der die Tramlinie 22 zum Schauplatz seines in diesen Tagen neu erschienen Romans gemacht hat.
„Das schöne ungeschminkte Prag. Äußerlich ist es nicht so schön, aber innerlich gehört das zu jeder normalen Großstadt dazu“,
beschreibt ein deutscher Tourist seinen Eindruck am Ausgangspunkt der Linie. Ich steige ein und fahre in Richtung Bílá Hora, dem Weißen Berg.Nicht auf den Schienen des öffentlichen Nahverkehrs, sondern in einem Café traf ich mich mit Jaroslav Rudiš. Der junge tschechische Autor hat sich dem Thema Straßenbahn auf literarische Weise genähert. Die Linie 22 durchquert auch seinen neuen Roman „Potichu“ (Die Stille).
„Mein Roman spielt an einem der letzten Sommertage. Es sind 24 Stunden in Prag, Tag und Nacht. Eigentlich sind es fünf Geschichten von fünf sehr unterschiedlichen Charakteren, die doch am Ende miteinander verbunden sind. Sie verbinden sich immer wieder, vor allem auch durch die Linie 22. Jeder wird mit ihr konfrontiert, jeder fährt mit ihr, einer Figur passiert etwas in ihr und einer meiner Charaktere fährt sie als Tramfahrer.“
Verschiedene Menschen treffen an einem der vermutlich alltäglichsten Orte, den eine Großstadt zu bieten hat, aufeinander - dem öffentlichen Nahverkehr. Was aber macht den besonderen Reiz gerader dieser Linie aus?
„Was mich so fasziniert hat, ist der filmische Aspekt, wenn man diese Welt - also Prag - aus dem Fenster einer Straßenbahn betrachtet. Stellen Sie sich nur vor, wo diese Linie überall vorbeifährt: Nationaltheater, Národní třída, wo die Revolution 1989 begann, dann über die Moldau, die Kleinseite hinauf zur Prager Burg und am Ende bis Bílá hora. Das bezieht sich genauso auf den anderen Streckenabschnitt. Die Linie 22 beginnt ja in Hostivař, an einem ziemlich hässlichen Ort am Rand von Prag, der geprägt wird durch Plattenbauten. Aber auch das hat eine gewisse „brutale Poesie“. Und dann kommt man aus dieser „Brutalität“ in diese absolut märchenhafte Schönheit von Malá strana, also der Kleinseite.“Wenn man die östlichen Wohnviertel der Stadt hinter sich lässt und sich dem Zentrum nährt, verändern sich auch die Fahrgäste. Das Gemurmel der Bewohner auf ihrem täglichen Weg zur Arbeit, zum Einkauf, zur Schule weicht einem internationalen Kauderwelsch.
Nun beginnt der geschichtsträchtige Teil der Fahrt. Man passiert die Schauplätze der Samtenen Revolution, überquert die Moldau mit Blick auf die Karlsbrücke und die über der Stadt thronende Prager Burg. Die Bahn durchquert die malerische Kleinseite. Viele erliegen der Verlockung und verlassen die Bahn bereits hier, um zu Fuß die kleinen Gassen entlangzuschlendern. Jaroslav Rudiš hat natürlich kein Buch über die Straßenbahn geschrieben. Es geht um die kleinen Geschichten in der Bahn.
Der Blick aus der Bahn bietet eine ständig wechselnde Szenerie. Kann man entsprechende Veränderungen auch in der Bahn beobachten?„Ja, ich habe beobachtet, welche Leute in Hostivař oder Vršovice mit der Bahn fahren. Durch das Stadtzentrum fahren oder zur Prager Burg fahren wiederum ganz andere Menschen. Die 22 ist nun mal die Touristenlinie Nummer 1 in Prag.“
Was genau haben Sie in der Bahn beobachtet, in welcher Form greifen Sie diese Beobachtungen auf, und wie schildern Sie das Treiben in der Bahn in ihrem Buch?
„Man kann Liebesszenen, Diebesszenen und auch Touristenszenen beobachten. Die Linie ist sehr bunt, was die Passagiere betrifft. Sie ist sehr touristisch, und zum Teil gibt es auch sehr viele Taschendiebe. Das gibt der Linie so etwas wie eine dramatische Spannung. Das kommt auch in meinem Buch vor, da gibt es ein paar deutsche Touristen, die beklaut werden. Dieses Touristische hat mich fasziniert, diese Verwandlung während der Fahrt. Vor allem im Sommer ist das deutlich zu sehen. Dann gibt es so eine Art „Weltmischung“, da stehen Japaner, Deutsche, Russen, Italiener, Spanier und ein paar Tschechen zusammen.“
Vor den Diebesszenen warnen auch Schilder in der Bahn. „Pozor na kapesní zloděje“, „Achtung vor Taschendieben“, kann man in jedem Waggon lesen.
Man umrundet die Prager Burg und verlässt Hradčany. Die imposante Kulisse weicht nun wieder langsam dem alltäglichen Bild der Vorstadt. Fast schon ein wenig deplatziert wirkt dann gegen Ende der Fahrt das Kloster Břevnov. Die Benediktinerabtei ist das älteste Kloster Böhmens. Es wurde im 10. Jahrhundert gegründet. Nach dem Dreißigjährigen Krieg wurde es im Barockstil umgebaut. Heute erstrahlt es wieder im frisch restaurierten Glanz.
Die Fahrt endet am Weißen Berg, ein nicht weniger bedeutender Ort in der tschechischen Geschichte. Hier besiegte 1620 ein Heer der Habsburger die aufsässigen Protestanten. An die historischen Ereignisse erinnert allerdings nur noch ein verlassener Gedenkstein auf einem Feld. Die einzigen Kämpfe, die hier noch stattfinden, werden von den umherschwirrenden Krähen ausgetragen, die sich um die letzten Körner balgen. In der Ferne grüßt der überdimensionierte Komplex eines Baumarktes, die Mauer eines weiteren nahe gelegenen Klosters schmückt die Reklametafel einer Autowerkstatt. Aber vielleicht ist auch das wieder ein wenig „brutale Poesie“.