Nablizko - Theater, das unterschiedliche Welten näher bringen will
Unerfreuliche Situation im Dienstleistungsservice für Gehörlose - das war die Motivation einer Gruppe, die sich im Jahr 2000 zur Gründung der Tschechischen Kammer der Dolmetscher in Gebärdensprache mit Sitz in Prag entschlossen hat. Die neu geschaffene Institution will vor allem den Gehörbehinderten Menschen bei ihrer Kommunikation mit der Außenwelt helfen, und dies auf einem Niveau, so wie es mittlerweile in der EU als üblich gilt. Doch nicht nur das. Die Dolmetscherkammer hält die Gebärdensprache für ein vollwertiges, natürliches Kommunikationsmittel, das die Identität der Gehörlosen stärken kann. In Zusammenarbeit mit einem Prager Theater ist ein erfolgreiches Projekt ins Leben gerufen worden.
Vor etwa drei Jahren hat sich die "Tschechische Kammer der Dolmetscher in Gebärdensprache" an das Prager Theater "Nablizko", auf Deutsch etwa "In der Nähe" mit einem in den tschechischen Breitengraden ungewöhnlichen Anliegen gewandt, nämlich eine Theatervorstellung zu inszenieren, die für Gehörlose bestimmt sein soll. Die Dolmetscherkammer hat schon früher mehrere Prager Bühnen angesprochen, allerdings ohne Erfolg. Im Theater Nablizko kam die Idee gut an. Auf eigene Erfahrungen auf diesem Gebiet konnte sich das Theater aber keineswegs stützen. So hat man sich zunächst auf die Suche gemacht. Mit welchem Ergebnis, das sagte uns die Regisseurin Apolena Vynohradnykova:
"Wir haben uns erkundigt und anhand erreichbarer Quellen erfahren, dass wir in der Tat die einzigen in Mitteleuropa sind, die wagen, das so genannte Schattendolmetschen zu betreiben. Vor drei Jahren haben wir das Stück "Tracy´s Tiger" von William Saroyan einstudiert, das in Form des Schattendolmetschens in der Gebärdensprache präsentiert wird. Das sieht so aus, dass jeder Schauspieler auf der Bühne seinen eigenen Dolmetscher hat."
Diese Darbietungsform hat man in den USA erfunden. In Europa kann sie auf keine lange Tradition zurückblicken. Das Prager " Nablizko" hat sich einfach ans Werk gemacht. Vynohradnykova sagt dazu:
"Es war seinerzeit das einzige Stück, das im mitteleuropäischen Raum auf diese Art und Weise uraufgeführt wurde. Mich selbst hat es überrascht, weil ich sehr bald feststellen musste, dass die Gebärdensprache eigentlich fabelhaft wie ein Theaterinstrument funktioniert. Auch wenn ich diese selbst nicht beherrsche, habe ich sie sofort lieb gewonnen."
An dieser Stelle sei gesagt, dass "Tracy´s Tiger" zunächst vier Jahre für ein normales Publikum auf der Bühne des Theaters Nablizko gespielt wurde. Insgesamt also sieben Jahre lang. Ende des vergangenen Jahres fand die Derniere statt. Außerdem studierte das Theater ein weiteres Stück ein, das auf Richard Brautigans Roman "In Wassermelonen Zucker" basiert. Hier hat man - sozusagen zur Abwechslung - das so genannte "Zonendolmetschen" eingesetzt. Die Regisseurin erläutert, worum es geht:
"Diese Weise des Dolmetschens besteht darin, dass die Bühne virtuell in zwei Hälften geteilt wird. Am Bühnenhorizont stehen jeweils auf einem Podest zwei Dolmetscher und jeder von ihnen ist sozusagen für eine Podiumshälfte zuständig. Wenn ein Schauspieler von einer Hälfte in die andere übergeht, wechselt auch der Dolmetscher. Dadurch kann der Zuschauer besser verfolgen, was auf der Bühne vor sich geht."
Vor kurzem fand im Theater Nablizko eine Premiere statt. Diesmal hat die Dramaturgie das Buch "Zahrada", auf Deutsch Garten, aus der Feder des tschechischen Meisters des Puppenfilms Jiri Trnka verwendet, der auch als Illustrator, Grafiker, Bildhauer und Marionettenspieler bekannt war. In deutscher Übersetzung ist das Buch unter dem Titel "5 Buben und 5 Elefanten" bekannt.
Einmal gingen fünf lustige Buben in die Schule. Unterwegs sahen sie eine hohe Steinmauer und in ihr ein Eisentor. Die Tür war schwer und verrostet, sie hatte ein großes Schloß und eine mächtige Eisenklinke, die war so hoch, daß sie sie nicht einmal erreichen konnten. Die Buben gaben nicht auf und versuchten, das unzugängliche Tor mit verschiedenen Schlüsseln, mit einem Bindfaden sowie anderen Gegenständen zu bezwingen.
Das Tor jedoch rührte sich kein bisschen. Schließlich stellte sich heraus, daß es überhaupt nicht verschlossen war und daß es genügte, ihm nur einen kleinen Stüber zu geben. Hinter dem Tor tauchte ein Garten auf. Im Garten war ein Kater, der die Buben zu verspotten begann. Doch sie erkannten auch, daß es eine Stätte voll Wunder und unverhoffter Überraschungen war. Apolena Vynohradnykova:
"Ich freue mich sehr darüber, dass "Zahrada" die erste Inszenierung in Zusammenarbeit mit der Dolmetscherkammer war, bei der von Anfang an auch die Dolmetscher an den Proben teilnahmen. Das Wort Dolmetscher verwende ich eigentlich gar nicht gerne, weil sie im Prinzip Interpreten sind. Aufgrund meiner Erfahrungen, namentlich bei "Tracy´s Tiger" kam ich zu dem Schluss, dass es zugleich auch talentierte Schauspieler sind. Und das habe ich eben bei dieser jüngsten Vorstellung ausgenutzt."
"Die drei Jungs im "Garten" sind praktisch Schauspieler, die die Gebärdensprache beherrschen. Außerdem spielt im Stück der Kater mit, dessen Rolle zweigeteilt ist: Den Vorderteil des Katerkörpers, konkret den Kopf, interpretiert ein Schauspieler in der Gebärdensprache, den Hinterteil mit den Beinen spielt wiederum ein anderer Schauspieler, der mit seiner Stimme spricht."
Apolena Vynohradnykova entdeckt gerne neue Spielformen und diese war für sie ein Experiment, für das es bisher noch kein Namen gibt. Sie bekennt sich zu ihrer Vorliebe für die Kombination des visuellen mit dem Bewegungstheater. Von der Vorstellung "Zahrada" ist das dynamische und farbenfrohe Bühnenbild kaum wegzudenken. Es trägt eine unübersehbare künstlerische Handschrift. Die Regisseurin arbeitet gerne mit bildenden Künstlern zusammen, die klangvolle Namen haben, wie zum Beispiel mit Jiri Snopko oder Frantisek Skala. Außerdem hat sie noch etwas im Sinn in Bezug auf das gerade angelaufene Stück:
"Ende April möchten wir die Premiere dieser Vorstellung in Englisch aufführen. Die englische Übersetzung, übrigens in der Tat eine gelungene, habe ich bereits seit zwei Jahren. Mit der Dolmetscherkammer haben wir vereinbart, dass sie dafür eine internationale Gebärdensprache vorbereitet, mit deren Hilfe die Vorstellung einstudiert werden kann. Man nennt es kurz "System" und es geht um eine Art Visualisierung der Gebärdensprache."
Mit der Vorstellung Zahrada verbindet das Theater "Nablizko" seine Ambitionen, auch in die Welt zu expandieren. Immerhin, die ersten Erfahrungen hat das Ensemble im Ausland bereits gemacht. Eine war besonders interessant, erinnert sich Apolena Vynohradnykova:
"Mit dem Stück "Tracy´s Tiger" waren wir in Algerien, und dort hat man uns unglaublich gut empfangen. Wir hatten dort sehr schöne Begegnungen mit Gehörlosen. Ihre Reaktionen ließen vermuten, dass sie alles verstanden haben. Mit dem Publikum haben wir sogar etwas Neues erlebt. In der Regel ist es so, dass Hörende für die Gehörlosen in der Gebärdensprache dolmetschen. Dort war es eigentlich umgekehrt. Wir gaben in Algier mehrere tschechischsprachige Vorstellungen, bei denen die Gehörlosen besser verstehen konnten. Ich glaube, dass solche Vorstellungen Sinn machen. Sie sind grenzüberschreitend."
Nun, mit dem neuen Theatertitel will das Nablizko-Ensemble sowohl hörfähige als auch gehörlose Kinder und Erwachsene ungeachtet ihrer Nationalität ansprechen. Das gemeinsame Erleben der humorvollen und gleichzeitig poetischen Geschichte soll die Welten von Hörenden und Gehörlosen, von Kindern und Erwachsenen näher bringen und allen ermöglichen, durch die verrostete Gartentür die Welt der jeweils anderen zu betreten, die für sie bis dahin nur hinter einer Mauer existierte.