Artur Radvansky - "Trotzdem habe ich überlebt"
Noch keine 18 Jahre alt war Artur Radvansky, als ihn die Nationalsozialisten 1939 ins KZ geschickt haben. Seine Verbrechen: Er war Jude und er hatte daheim in Nordmähren Verfolgten des Regimes bei der Flucht ins damals noch freie Polen geholfen. Fast sechs Jahre, bis zum Ende des Krieges, dauerte die Odyssee des jungen Mannes durch die NS-Todesmaschine. Jetzt ist seine Lebensgeschichte als Buch erschienen - herausgegeben von deutschen Freunden.
"Ich war in Buchenwald, Ravensbrück, Sachsenhausen, Auschwitz, Mauthausen und Ebensee - das war mein Weg durch die Lager. Das schlimmste war der Anfang im Sonderlager Buchenwald. Mein Vater ist dort gestorben, ich selbst habe ihm die Augen zugedrückt."
Das Sonderlager Buchenwald war eine Zeltstadt neben dem eigentlichen KZ, darauf abgestellt, die Häftlinge unter primitivsten Bedingungen langsam zu Tode kommen zu lassen.
"Vierstöckige Pritschen waren in den Zelten, für je zwei Mann eine Decke, kein Stroh, gar nichts. Ein Stück weiter war ein Waschbecken mit Wasser, aber was nützt Wasser bei minus fünf Grad?! Das war unbrauchbar und so konnten wir keine Hygiene halten. Wir hatten furchtbar schlechte Bedingungen, denn in unseren Papieren standen zwei Buchstaben: RU, Rückkehr unerwünscht. Das hieß praktisch, dass wir zum Tode verurteilt waren."
Erst als drohte, dass sich Seuchen bis ins nahe Weimar ausbreiten, wurde das Sonderlager aufgelöst. Für Artur Radvansky folgten weiter Lager, Arbeitskommandos vom Steinbruch bis zum Bäumeroden und schließlich, im Oktober 1942, die Deportation nach Auschwitz:
"Bei der Selektion in Auschwitz hat mich der Lagerarzt Entress gefragt: ´Was bis Du von Beruf?´ Mich hat schon in Buchenwald, Ravensbrück, Sachsenhausen der Gedanken beschäftigt, dass die Kameraden, die im Häftlings-Krankenbau gearbeitet haben, bessere Bedingungen gehabt haben: Sie haben in der Wärme gearbeitet, sind nicht in Kontakt mit SS-Leuten gekommen, hatte leichtere Arbeit und mussten vor allem nicht zum Appell antreten. Also habe ich gedacht: Um Gottes Willen, was wäre, wenn Du in so ein Kommando kommen könntest. Lagerarzt Entress hat mich also gefragt: ´Was bist Du von Beruf?´ Ich habe rausgeschossen: ´Student der Medizin! Karlsuniversität Prag, zwei Semester!´ Und der Arzt hat mich herausgeholt und ich wurde sein Hilfssanitäter. Und das war meine Rettung."
Durch seine Notlüge - in Wirklichkeit hatte er bei seiner Verhaftung nicht einmal das Gymnasium abgeschlossen - kam Artur Radvansky schließlich ins SS-Lazarett von Auschwitz. Hier bekam er einen Einblick in die Todesmaschinerie des Lagers.
"Im SS-Lazarett war eine Apotheke, und in diese Apotheke gab es im Magazin auch Zyklon B. Wenn in Auschwitz-Birkenau nicht mehr genug Zyklon B vorhanden war, dann sind Häftlinge des Sonderkommandos unter Bewachung gekommen und haben eine Kiste mit Zyklon B geholt. Die haben uns erzählt, wie das mit den Vergasungen war."
Artur Radvansky hat daraufhin mitgeholfen, die Zutaten für das Schwarzpulver zu besorgen, mit dem Häftlinge im Oktober 1944 eine Gaskammer von Auschwitz in die Luft sprengen konnten. Im SS-Krankenbau war er der Bursche für Alles und wurde von den Lagerärzte für die verschiedensten Dienste herangezogen.
"Und da habe ich auch Dr. Mengele getroffen: ´Artur, bitte machen Sie mir ein Bad! Artur, bitte massieren Sie mich, Artur, bitte machen Sie meinen Anzug, meine Stiefel sauber´ - immer mit ´Bitte´ und mit ´Sie´! Ich habe nie gehört, dass er geschimpft oder geschrieen hätte - und zugleich hat er tausende und tausende Menschen in den Tod geschickt."
Die Doppelgesichtigkeit des Lagers. Für die Kinder von SS-Hauptsturmführer Eduard Wirths, dem Leiter des Sanitätswesens in Auschwitz, war der junge Jude gar "Onkel Artur" - ohne dass Wirths widersprochen hätte. Paradoxe, bei denen letztlich auch Artur Radvansky ratlos bleibt.
"Ein Häftling war sein Hund. Seinen Hund hat jeder gern und man schlägt ihn nicht täglich. Ich war ein Teil seines Lebens, irgendwie. Ich kann es ihnen nicht erklären."
Als die Front näher rückte wurden in Auschwitz große Transporte in den Westen zusammengestellt - die Todesmärsche. Am 18. Januar 1945 musste auch Artur Radvansky abmarschieren:
"Alle sind losgegangen - schlecht angezogen, wir haben nichts zu Essen bekommen, wir haben Schnee gegessen. Wer umgefallen ist und nicht gleich wieder aufgestanden, dem hat ein SS-Mann von hinten einen Genickschuss gegeben. Natürlich waren nicht gleich alle sofort tot. Manche haben geweint, gebrüllt, geschrieen, geblutet. Und der nächste SS-Mann, der da stand, hat befohlen: Schmeißt den Toten in den Graben. Da mussten wir das machen. Wir wussten nicht, wohin wir gehen, wie lange es dauern wird - halten wir´s aus oder nicht? Drei Tage sind wir so gelaufen, dann kamen wir nach Leslau zum Bahnhof, wieder ohne Essen und Trinken, und man hat uns einwaggoniert. In offene Waggons wurden hereingequetscht, so viele, wie nur hineingingen. So sind wir durch Mähren gefahren. Es sind viele erfroren unterwegs. Was haben wir gemacht? Wir haben ihnen die Kleider heruntergezogen und uns selbst umgewickelt. Und die Leichen haben wir aus dem Waggon geworfen auf die Strecke. Also solche Sachen habe ich erlebt und kennen gelernt."
Die Befreiung kam am 6. Mai 1945 im Lager Ebensee bei Salzburg. Fast sechs Jahre hatte Artur Radvansky auf diesen Tag gewartet. Im letzten Moment hatten SS-Truppen noch versucht, die Häftlinge in einen verminten unterirdischen Stollen zu treiben. Woher hat er die Kraft genommen, in den Jahren nicht aufzugeben?
"Die letzten Worte von meinem Vater waren: Du musst der Mutter helfen mit deinen zwei Brüdern - die waren nämlich taubstumm. Das habe ich dem Vater versprochen. Und so habe ich mir gesagt: Ich muss leben, ich muss überleben, weil ich das dem Vater doch versprochen habe. Und eine zweite Sache, die mir geholfen hat: Ich habe einen sehr frommen Opa gehabt - kein orthodoxer Jude, aber sehr fromm. Und als ich zwei, drei Jahre alt war, hat er mich gelehrt, ein jüdisches Morgengebet zu sagen. Und wenn ich im Lager aufgewacht bin, dann habe ich mich an den Opa, den ich sehr gerne gehabt habe, erinnert, und ich habe gebetet. Und irgendwie hat mir das so eine innere Kraft gegeben."
Eine Kraft, die bis heute anhält. Die ganze Familie von Artur Radvansky ist in Majdanek, Treblinka und Auschwitz ums Leben gekommen, 26 Verwandte. Jahrelang hat Artur Radvansky geschwiegen. Erst als seine kleine Tochter als "Judenkind" beschimpft worden ist, hat er verstanden, dass er der Vergangenheit nicht entkommen kann. Er begann, in der Gemeinde mitzuarbeiten, wurde Sekretär des Rates der Jüdischen Gemeinden und später in seiner Freizeit Verwalter des neuen Jüdischen Friedhofs in Prag-Straznice. Und er begann seine Geschichte zu erzählen - auch deutschen Jugendlichen, die für die Aktion Sühnezeichen auf dem Friedhof arbeiteten.
"Ich habe Alpträume gehabt. Ich habe geträumt, dass ich im Lager bin. Als ich dann mit den Jugendlichen von der Aktion Sühnezeichen gesprochen habe, habe ich mich von dem allen irgendwie freigesprochen. Es hat 25, 30 Jahre gedauert, bevor ich von dem erzählen konnte, was ich im Lager mitgemacht habe - das hat sehr lange gedauert."
Aus den damaligen freiwilligen Helfern sind inzwischen deutsche Freunde geworden. Zum 85. Geburtstag von Artur Radvansky haben nun sie seine Lebensgeschichte aufgeschrieben. Das Buch "Trotzdem habe ich überlebt" ist soeben im Dresdner Verlag ddp goldenbogen erschienen. Für Artur Radvansky aber ist damit seine Aufgabe nicht beendet. Er reist weiter durch Schulen, sucht das Gespräch mit jungen Menschen.
"Ich habe so ein Gefühl, dass ich dabei sein muss, nicht weil ich Mitleid suche, aber damit so etwas nicht mehr passiert. Das ist meine Pflicht, deshalb mache ich es. Mit Lust und Freude, muss ich zugeben."
Artur Radvansky: Trotzdem habe ich überlebt. Hrsg. von Dr. Christian Staffer, Lena Schnabel, Friedemann Bringt und Joachim Rasch. ddp goldenbogen, Dresden 2006. 108 S. 9,90 Euro.