Kolonialisierung und Missionierung? Die Kirche zwischen Vertreibung und Wiederbesiedlung

Immer wieder wird über die Vertreibung und Aussiedlung der deutschen Bevölkerung aus der Tschechoslowakei nach dem Zweiten Weltkrieg diskutiert. Über die weitere Entwicklung in den ehemaligen Sudetengebieten ist hingegen weniger bekannt. Seit einigen Jahren wird nun aber verstärkt der Frage nachgegangen, was eigentlich in diesen Gebieten passierte, nachdem die Deutschen weg waren? Andreas Wiedemann beschäftigt sich in unserem heutigen Geschichtskapitel mit einem speziellen Aspekt der tschechischen Nachkriegsgeschichte: Mit der Rolle der Kirche im Zusammenhang von Vertreibung und Wiederbesiedlung.

Zeitgleich mit der Vertreibung und Aussiedlung der Sudetendeutschen verlief die Neubesiedlung der ehemaligen Sudetengebiete bzw. der Grenzgebiete der böhmischen Länder. Die Deutschen, die in den Grenzgebieten insgesamt die Bevölkerungsmehrheit stellten, sollten durch Tschechen und Slowaken ersetzt werden. Mindestens 1,7 Millionen Neusiedler folgten den Aufrufen von Regierung und Parteien und gingen in die Grenzgebiete. Die meisten von ihnen kamen aus dem tschechischen Binnenland. Etwa zwei Jahre nach Kriegsende bildeten diese Neusiedler die Bevölkerungsmehrheit in den Grenzgebieten. Durch die Vertreibung und Besiedlung wurden nicht nur große Veränderungen in der Bevölkerungsstruktur, sondern auch in der Wirtschaftsstruktur und im kulturellen und konfessionellen Bereich in Gang gesetzt. Welche Rolle spielte die Kirche bei der Vertreibung und Besiedlung in den Grenzgebieten? Wie sahen sie die Lage in der unmittelbaren Nachkriegszeit? Der Historiker Martin Zückert, Geschäftsführer des Collegium Carolinum in München, erläutert:

"Viele Kirchenvertreter bezeichneten nach 1945 die Situation in den Grenzgebieten Böhmens und Mährens als eine Situation wie in einem Missionsland. Das lag vor allem daran, dass vielfach Strukturen, vor allem der katholischen Kirche, zusammengebrochen waren und es an Priestern mangelte, da viele Priester deutscher Nationalität, ebenso wie die deutsche Bevölkerung insgesamt vertrieben wurde."

Die wilden Vertreibungen im Frühjahr und Sommer 1945 erfassten die deutschen Priester und Ordensleute in gleicher Weise wie den Rest der deutschen Bevölkerung. Ausnahmen wurden nur gemacht, wenn deutsche Geistliche als Antifaschist anerkannt wurden Die Folgen für die Kirche waren vielerorts katastrophal: Viele Gemeinden blieben in der Folge ganz ohne Priester, zahlreiche Pfarrhäuser standen leer. Welche Positionen vertrat die Kirche gegenüber der Vertreibung und Aussiedlung der Deutschen?

Die Vertreibung der Deutschen
"Man kann im Großen und Ganzen sagen, dass es einen Konsens gab. Innerhalb dieses Konsenses wurde die Vertreibung und Aussiedlung der Deutschen nicht in Frage gestellt. Es gab allerdings Positionen, insbesondere innerhalb der katholischen Kirche, die versuchten Willkürmaßnahmen und Ausschreitungen zu verhindern", so Zückert.

Gab es eventuell unterschiedliche Positionen zwischen den tschechischen Kirchen? Dazu sagt Zückert:

"In der evangelischen Kirche der böhmischen Brüder wie auch in der tschechoslowakischen Kirche gab es auch diesen Konsens, also die Überzeugung, dass es richtig ist, die Deutschen auszusiedeln. Zusammengefasst kann man sagen: Alle drei hier genannten großen Konfessionen, die katholische Kirche, die evangelischen Kirche der böhmischen Brüder wie auch die tschechoslowakischen Kirche bejahten bzw. akzeptierten die Vertreibung der Deutschen, bemühten sich aber darum, dass es zu keinen Willkürmaßnahmen kommt."

Die Situation in der katholischen Kirche war allerdings etwas anders als bei den evangelischen Konfessionen. Die römisch-katholische Kirche war gewissermaßen übernational organisiert, ihr gehörten sowohl deutsche als auch tschechische Priester an. Die Tschechoslowakische Kirche, die heute den Namen Tschechoslowakische Hussitische Kirche trägt, wurde von tschechischen Katholiken im Jahr 1920 gegründet und war eine national-tschechisch organisierte Kirche. Die Deutsche Evangelische Kirche in Böhmen, Mähren und Schlesien war ebenfalls eine national strukturierte Kirche. In ihr übten nur deutsche Geistliche das Pfarramt aus. Sie war nach der Gründung der Ersten Tschechoslowakischen Republik entstanden, als sich die bis dahin einheitliche evangelische Kirche Altösterreichs in eine deutsche und eine tschechische evangelische Kirche trennte. Die tschechische Kirche trug seit 1918 den Namen Evangelische Kirche der böhmischen Brüder. Für die deutsche evangelische Kirche bedeutete die Aussiedlung der deutschen Pfarrer das Ende ihrer Existenz, da keine tschechischen Priester auf die Posten der ausgesiedelten Deutschen nachrücken konnten. Die Kirche wurde aufgelöst und ihr Vermögen fiel an den Staat.

Die Mehrheit der Tschechen, die aus dem Binnenland in die Grenzgebiete kamen, waren religiös nur wenig gebunden, so dass die Kirchenarbeit in den Grenzgebieten auch ein wenig den Charakter einer Missionierung hatte. Martin Zückert erläutert die doppelte Bedeutung, die der Missionsbegriff für die Grenzgebiete hatte:

"Dieser Begriff des Missionslandes zielte also auf zwei Aspekte: Zum einen auf den Zusammenbruch der Strukturen bzw. den teilweisen Zusammenbruch der Strukturen. Zum anderen auf das religiöse Leben in den Grenzregionen. Denn man war sich nicht sicher, inwieweit neue kirchliche Strukturen entstehen würden durch den Zuzug der Neusiedler", erläutert Zückert.

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Der strukturelle Wiederaufbau bedeutete konkret die Besetzung von Pfarrstellen mit Priestern als Ersatz für die ausgesiedelten Deutschen. Ferner sollten leerstehende Pfarrhäuser geschützt und deren Plünderungen verhindert werden. Der Tschechoslowakische Staat betrachtete es als eine seiner wichtigsten Aufgaben, die Neuankömmlinge in den Grenzgebieten zu integrieren und die neu entstandenen Strukturen zu stabilisieren. Auch die Kirche bemühte sich darum, den Neusiedlern Orientierung und Halt zu geben.

"Ziel war es, den Neusiedlern neue Deutungsangebote bieten zu können. Wie soll man diesen Prozess verstehen, wie soll man ihn in einen religiösen Kontext einordnen. Dazu gab es z.B. 1947 eine Wallfahrt, bei der die Gebeine des heiligen Voytech, des heiligen Adalbert, durch die gesamte Tschechoslowakei getragen wurden und unter anderem auch Stationen im Grenzland eingebaut wurden. Dort sollte die nationale aber eben auch die christliche Mission des heiligen Voytech für die Grenzgebiete betont werden. Man muss einschränkend aber sagen, dass die Kirchen damals sicherlich nicht die Deutungshoheit in der Tschechoslowakei hatten, sondern hier mit den allgemeinen Deutungsangeboten: Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft. Tschechisierung, Nationalisierung in Konkurrenz stand", so Zückert.

Die neue Gesellschaft in den Grenzgebieten setzte sich nach dem Abschluss von Aus- und Ansiedlung aus Menschen verschiedener Herkunftsgebiete zusammen. Rund 200.000 Tschechen und Slowaken, deren Vorfahren ausgewandert waren, kamen nach dem Zweiten Weltkrieg in die Tschechoslowakei. Ein großer Teil dieser genannten Reemigranten siedelte sich in den Grenzgebieten an. Sie gehörten unterschiedlichen Konfessionen an. Einige der slowakischen Reemigranten aus Rumänien waren evangelisch, Zuwanderer aus der Slowakei gehörten der römisch-katholischen oder der griechisch-katholischen Kirche an und die Tschechen aus Wolhynien waren orthodox. Wie lassen sich die Veränderungen in den Grenzgebieten durch Vertreibung und Wiederbesiedlung zusammenfassen?

"Einerseits gab es große Veränderungen in den kirchlichen Strukturen, zum Teil auch einen allgemeinen Rückgang z.B. durch den Mangel an Priestern in der katholischen Kirche. Andererseits kann man kurz und knapp sagen, dass durch den Zuzug unterschiedlicher Siedler, die zum Teil orthodox waren, griechisch-katholisch oder einer der kleineren evangelischen Konfessionen angehörten, eine neue konfessionelle Vielfalt entstanden ist."

Für die verschiedenen Kirchen entstand somit auch eine gewisse Konkurrenzsituation beim Aufbau ihrer Organisation in den Grenzgebieten. Eine Frage bleibt der Forschung in Zukunft aber noch erhalten, wie Zückert erläutert:

"Die zukünftige Forschung müsste auch danach fragen, inwieweit religiöse Zugehörigkeit und religiöse Deutungsangebote für die Neusiedler identitätsstiftend waren, trotz aller Deutungshoheit des nach 1948 kommunistisch dominierten Staates", so Zückert