Wunderwelt Statistik: Gibt es nur zwanzig Tschechen?
Vielleicht haben Sie es im Programm von Radio Prag ja verfolgt: Vor kurzem wurde im Rahmen einer Gala-Veranstaltung des öffentlich-rechtlichen Tschechischen Fernsehens verkündet, wer nach Meinung des Volkes "Der größte Tscheche" ist. Damit ging dieser "Wettbewerb" lebender und toter Größen nach mehrwöchigem Abstimmungsmarathon zu Ende. Parallel dazu konnte man noch eine weitere Stimme abgeben. Und zwar als Antwort auf die Frage: Wer ist der größte Schuft? Ein Radio-Feuilleton von Gerald Schubert:
Die Siegerehrung vorweg: Zum größten Tschechen wurde Karl IV. erkoren, im 14. Jahrhundert römisch-deutscher Kaiser und böhmischer König. Größter Schuft wurde Klement Gottwald, erster kommunistischer Präsident und Machtergreifer des Jahres 1948.
Auf Platz zwei und drei bei den Großen: Die ehemaligen Präsidenten Tomás Garrigue Masaryk und Václav Havel. Auf den Schuft-Plätzen rangieren an zweiter Stelle Expremier Stanislav Gross und an dritter der gegenwärtige Präsident Václav Klaus.
Bemerkenswert am Gesamtergebnis ist vieles: Etwa, dass unter den 100 größten Tschechen nur 18 Tschechinnen sind. Oder dass bei einigen von ihnen das Attribut "Tscheche" zum Stirnerunzeln, oder sagen wir besser: zum Nachdenken über europäische Geschichte anregt. Als Beispiele seien Sigmund Freud, Franz Kafka oder der Sieger Karl IV. genannt. Auffällig ist weiter, dass wir unter den Top Ten der Kategorie "Größter Schuft" gleich neun Politiker finden, und einen Großbetrüger.
Am bemerkenswertesten jedoch ist eine kleine, aber feine Laune der Statistik. Staatspräsident Václav Klaus nämlich wurde - wie bereits erwähnt - drittgrößter Schuft, er wurde aber gleichzeitig achtzehnter in der Wertung der Guten und Großen des Landes. Als einer meiner Freunde von diesem Ergebnis hörte, da sah er langsam und sinnierend vom Tisch auf und fragte ungläubig: "Heißt das, es gibt nur zwanzig Tschechen?"
Ein Gedanke von bestechend schöner Logik. Jetzt werden freilich die Statistiker unter unseren Hörern das Phänomen der zu Berge stehenden Haare zeigen und auf einen gewichtigen intervenierenden Störfaktor hinweisen, der darin besteht, dass die Vox populi keine methodisch korrekten Operationalisierungen vornimmt. Dennoch aber wurde das Ergebnis auf recht offizielle Weise präsentiert. Und abgesehen davon ist die Meinung der Bevölkerung in demokratischen Gesellschaften eine nicht gerade unwichtige Größe.
Statistisch gesehen sind wir jedenfalls knapp an einer Situation vorbeigeschrammt, in der der größte Tscheche gleichzeitig der größte Schuft ist. In der Logik meines Freundes gäbe es dann nur einen einzigen Tschechen. Er wäre wohl Präsident auf Lebenszeit.