Trotz allgemeiner Zufriedenheit: Tschechen sehen 2023 als Jahr „zum Vergessen“

Bereits seit Anfang der 1990er Jahre werden die Menschen in Tschechien regelmäßig nach ihrer allgemeinen Zufriedenheit befragt. Die neuesten Ergebnisse aus dem Januar zeigen eine interessante Diskrepanz: Mit ihrem privaten Leben sind 82 Prozent der Menschen hierzulande zufrieden. Doch das vergangene Jahr bezeichneten nur 62 Prozent der Tschechinnen und Tschechen als für sie erfolgreich. Mehr als die Hälfte von ihnen verbindet 2023 hingegen mit dem Gefühl von Enttäuschung und Ermüdung.

Martin Buchtík ist Soziologe und leitet das Meinungsforschungsinstitut Stem, das die Umfrage durchgeführt hat. In den Inlandssendungen des Tschechischen Rundfunks erläuterte er die sich scheinbar widersprechenden Daten:

„Unsere Fragen stellen wir schon seit der Gründung der eigenständigen Tschechischen Republik. Die Bewertung der allgemeinen Zufriedenheit entspricht dem Gefühl, dass man im Leben zurechtkommt oder sogar ein gutes Leben hat, obwohl vielleicht die Bedingungen nicht ideal sind. Dieser Punkt wird regelmäßig positiver bewertet als das jeweils abgelaufene Jahr.“

Dennoch gibt es in letzter Zeit eine deutliche Negativtendenz im Urteil über die gesellschaftspolitische Entwicklung hierzulande. Dahinter steht die kurze Abfolge der Krisen seit 2020…

Martin Buchtík | Foto: Michaela Danelová,  Tschechischer Rundfunk

„Mindestens seit Beginn der Corona-Pandemie, also seit vier Jahren, gibt es eine deutliche Unzufriedenheit mit der gesamtgesellschaftlichen Lage. Dieser Abgrund tut sich auch bei unserer Frage zur Zukunft auf. Da sagt ein großer Teil der Befragten, dass es ihnen selbst und ihren Kindern wohl besser gehen, aber die tschechische Gesellschaft immer schlechter funktionieren werde. Das ist interessant. Auf der einen Seite gibt es also die negativen Gedanken zur Entwicklung des Staates und auf der anderen Seite das Vertrauen, mit Fleiß im eigenen Leben etwas erreichen zu können“, so Buchtík.

Laut der Umfrage von Stem schauen 57 Prozent der Menschen hierzulande mit Befürchtungen und Unsicherheit auf das angebrochene Jahr 2024. Immerhin bedeutet dies eine leichte Verbesserung gegenüber 2023. Die Unsicherheit rührt laut Buchtík vor allem von der wirtschaftlichen Lage her:

„Die wirtschaftliche Lage hat im vergangenen Jahr besonders jene Menschen belastet, die unterdurchschnittliche Einkünfte haben. Und die Unsicherheit über die Entwicklung im neuen Jahr geht darauf zurück, dass ständig darüber geredet wird, ob die Energiepreise noch bezahlbar bleiben und ob wir weiter mit hohen Inflationsraten rechnen müssen. Mittlerweile scheint es aber, dass die Teuerung an einem Punkt angelangt ist, an dem sie wieder kontrollierbar wird. Die tschechische Nationalbank dürfte für 2024 ein Preissteigerungsniveau von drei oder vier Prozent verkünden. Im gesamten vergangenen Jahr war die tschechische Gesellschaft beunruhigt. Dabei haben sich seit 2020 die Gründe für diese Stimmung gewandelt. Zunächst wurde vor allem über Corona gesprochen, dann kam der Schock durch den russischen Einmarsch in die Ukraine, und zuletzt waren es gerade die Inflation und die Energiepreise.“

Bestimmte Unterschiede gab es seit 2020, wie die jeweiligen Altersgruppen die Lage beurteilen. Während der Corona-Pandemie legte sich der Pessimismus auch auf die Seelen der jungen Menschen im Land. Doch die nachfolgenden Krisen haben sie nicht mehr so negativ erlebt wie die Mehrheit der Gesellschaft. Soziologe Buchtík erklärt dies damit, dass die Umfrageteilnehmer bis 30 Jahre häufig noch keine Kinder haben und sich auf dem Arbeitsmarkt meist Chancen auf einen Aufstieg ausrechnen.

Immerhin scheint sich auch bei der Mehrheit der tschechischen Gesellschaft die Stimmung langsam wieder aufzuhellen, wie der Soziologe noch anmerkt:

„Die Menschen beginnen wieder, mit Hoffnung in die Zukunft zu schauen. Zumindest ein Teil der hiesigen Bevölkerung sieht ein Licht am Ende des Tunnels. Ich habe das Gefühl, dass sich die Lage auch wirklich verbessern wird – und zwar schon diesen Sommer. Denn wir beobachten bereits seit einem halben Jahr eine Umkehr im Trend.“

Autor: Till Janzer | Quellen: Český rozhlas Plus , ČTK
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