Die älteste bekannte Ur-Europäerin lebte in Tschechien
Vor etwa 45.000 Jahren kamen die ersten Vertreter des Homo sapiens nach Europa. Unter ihren Nachkommen war auch eine Frau, deren fossiler Schädel vor 70 Jahren in Tschechien gefunden wurde. Aber erst jetzt konnte das Alter des Fundstückes mittels einer DNA-Analyse datiert werden. Dabei hat sich gezeigt, dass die Frau weit älter ist als gedacht. Außerdem gehörte sie einer Population an, die später ausgestorben ist.
1950 entdeckten tschechische Forscher am Berg Zlatý kůň (Goldenes Pferd) in der Koněprusy-Höhle nahe Prag die Teile eines weitgehend kompletten Schädels einer Frau aus der Altsteinzeit. Mehr als ein halbes Jahrhundert lag der Schädelknochen im Archiv des Nationalmuseums. Dann ergaben moderne Forschungsmethoden, dass er mehr als 45.000 Jahre alt ist. Dieses Forschungsergebnis wurde im April dieses Jahres publiziert. Demzufolge handelt es sich bei der Frau um einen der ältesten bekannten Vertreter des modernen Menschen (Homo sapiens) in Europa. Um die Erkenntnis hat sich ein internationales Team verdient gemacht. Diesem gehörten neben tschechischen Wissenschaftlern auch Forscher zweier Max-Planck-Institute und der Universität Tübingen an. Kay Prüfer vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie erklärt die Peripetien der Datierung:
„Interessanterweise gingen die damaligen Entdecker schon beim Fund des Schädels davon aus, dass es sich wahrscheinlich um einen sehr alten Schädel handelt. Und es gibt nicht viele solche alten Schädel in Europa von den ersten Europäern, von den ersten modernen Menschen, die nach Europa gekommen sind. Erst sehr viel später kam aber die Radiokarbondatierungsmethode auf, mit dieser wurde dieser Schädel um das Jahr 2000 herum erstmals datiert. Das Ergebnis war, dass der Schädel gar nicht so alt sei, nur ungefähr 10.000 Jahre. Und auf einmal wurde der Fund weniger interessant. Mit der Zeit haben sich aber noch weiter Forscher damit beschäftigt, unter anderem aus Tschechien. Sie sprach uns dann an, weil sie anhand seiner Form und weiterer Zeichen festgestellt hatten, dass dieser Schädel nicht in die Varianz passt, die wir heute unter Menschen sehen. Anhand ihrer Analyse schien es sehr unwahrscheinlich, dass dieser Schädel zu einem Menschen gehört, der innerhalb der letzten 15.000 Jahre in Europa gelebt hat. Das war also wieder ein Hinweis darauf, dass es sich um einen alten Schädel handelt.“
Datierung dank der Neandertaler-Gene
Bei der nun angewandten Methode war die Genetik entscheidend. Die Forscher erhielten Proben aus dem Felsenbein und extrahierten das Genom der Frau daraus. Die Erkenntnisse über die Träger der vererbbaren Informationen trugen zur Datierung bei:
„Man kann den Fakt nutzen kann, dass alle Menschen, die ihre Herkunft von dem Out-of-Afrika-Event haben, also die außerhalb von Afrika leben, ein bisschen Neandertaler in ihrem Genom haben. Nachdem die Menschen aus Afrika raus sind, vor mehr als 50.000 Jahren, haben wir uns mit Neandertalern vermischt und tragen in unserem Genom Fragmente von ihnen. Die Länge dieser Fragmente weist darauf hin, wie lange nach dieser Vermischung mit den Neandertalern das Individuum gelebt hat. Die Fragmente in diesem Schädelknochen waren sehr lang, was der Hinweis darauf ist, dass das Individuum sehr kurz nach der Vermischung mit Neandertalern gelebt hat. Und da wir so ungefähr wissen, dass die Vermischung mit Neandertalern vor 50.000 Jahren passiert ist, haben wir anhand der Länge festgestellt, dass der Schädelknochen wahrscheinlich 45.000 Jahren alt ist oder vielleicht sogar noch ein paar tausend Jahre älter.“
Bisher ältestes Genom moderner Menschen
Das Forschungsteam konnte aus dem Schädel aus der Koneprusy-Höhle das bisher älteste bekannte Genom moderner Menschen rekonstruieren. Aus der Zeit der ersten Besiedlung Europas und Asiens liegen nur sehr wenige Funde vor. Neben der Frau von Zlatý kun konnten bislang nur drei Genome von Individuen isoliert werden:
„Ich möchte klarstellen, dass wir ein komplettes Genom haben. Es ist kein hochqualitatives Genom, aber wir haben es soweit sequenzieren können, dass wir das gesamte Genom zumindest in einfacher Abdeckung sehen können. Das ist tatsächlich relativ selten, wenn es um moderne Menschen geht. Wir haben schon Neandertaler studieren können, die unter ausgezeichneten Bedingungen erhalten geblieben sind. So ist das Genom auch in jenen Knochen erhalten geblieben, die wir zum Beispiel in der Denissowa-Höhle (Altai-Gebirge in Sibirien, Anm. d. Red.) gefunden haben. Diese sind noch einmal deutlich älter, wahrscheinlich über 100.000 Jahre alt. Was moderne Menschen angeht, gibt es bisher nur ein hochqualitatives Genom, und das stammt aus Ust-Ischim. Der entsprechende Mensch hat vor 45.000 Jahren in Sibirien gelebt. Wir können zeigen, das Zlatý kůň ein bisschen älter ist. Zudem hat eine andere Gruppe simultan zu uns eine Publikation herausgebracht, in der es um Batscho-Kiro geht. Das ist eine bulgarische Höhle, in der ebenfalls Knochen gefunden und jetzt studiert wurden. Diese sind ungefähr gleich alt, es handelt sich aber um eine Population, die eine Verbindung nach Asien hatte. Zudem ist noch ein weiterer Knochen untersucht worden, und zwar Oase 1 aus Rumänien. Bei diesem hat man festgestellt, dass er erst sehr kurze Zeit zuvor die Neandertaler-Vermischung hatte. Wahrscheinlich war dieses Individuum gerade frisch nach Europa gekommen, und die Population hatte sich nur wenige Generationen zuvor mit Neandertalern vermischt. Der Knochen ist ungefähr 40.000 Jahre alt.“
Die Frau von Zlatý kůň gehörte zu den ersten menschlichen Europäern überhaupt. Wie war das Schicksal der Population, der die Frau angehörte?
„Das ist eine sehr interessante Frage. Es ist tatsächlich so, dass wir bis jetzt sehr wenig über diese ersten Europäer wissen. Zlatý kůň ist die erste Einsicht, die wir darin haben, was diese Population ausmacht. Wir können sehen, dass das Genom dieser Frau nicht zu den Vorfahren von jetzt in Europa lebenden Menschen gehört. Sie gehört auch nicht zu den direkten Vorfahren von Menschen, die in Asien oder anderswo in der Welt leben. Es war eine separate Population, zu der sie gehört hat. Aber diese Population hatte gemeinsame Vorfahren mit allen anderen außerhalb von Afrika lebenden Populationen. Sie gehört zu einer Population, die sich relativ früh abgetrennt hat. Unsere Vorstellung ist, dass sich die Menschen, nachdem sie Afrika verlassen hatten, in unterschiedliche Subpopulationen aufgeteilt und über den Erdball verteilt haben. Sie gehört zu einer separaten Gruppe, die wir bisher noch nicht studieren konnten.“
Verschwundene Population
Die Population, der die Frau von Zlatý kůň angehörte, muss später ausgestorben sein. Ihr Erbgut hat nämlich keine Spuren in den heutigen Europäern hinterlassen. Warum haben sich aber diese frühen modernen Menschen nicht durchsetzen können? Was stand ihrer Entwicklung im Weg? Darüber könne man im Moment leider nur spekulieren, sagt Kay Prüfer. Eine Erklärung biete aber das Schicksal der Neandertaler:
„Es gibt Theorien, die erklären könnten, wie das passiert ist. Wir spekulieren tatsächlich über eine Möglichkeit. So wissen wir, dass die Neandertaler, die mehrere Hunderttausend Jahre lang in Europa und in Asien gelebt haben, vor ungefähr 40.000 Jahren verschwunden sind. Interessant ist, dass wir mit dieser Frau, die 45.000 Jahre alt ist, eine Population finden, die auch keine Nachkommen hinterlassen hat. Es gibt einen großen Vulkanausbruch der Phlegräischen Felder in Italien, der auf die Zeit vor 39.000 Jahren datiert ist und zu einer Klimaänderung in Europa geführt hat. Tatsächlich lässt sich im Erdreich eine dünne Ascheschicht finden, die darauf hinweist, dass es sich um einen recht substantiellen Ausbruch gehandelt haben muss. Man sieht dies auch mehrere Tausend Kilometer entfernt von der Ausbruchsstelle. Die Theorie wäre dann Folgende: Dieser Ausbruch des Vulkans vor ungefähr 39.000 Jahren hat das Klima in Europa so verändert, dass es sowohl für die Neandertaler als auch für die ersten ankommenden Menschen in Europa sehr schwer war zu überleben.“
Das Studium der verschwundenen Population geht aber mit der nun vorliegenden Datierung des ältesten europäischen Menschenfossils noch nicht zu Ende…
„Unsere Hoffnung ist, dass wir noch deutlich mehr über diesen Schädel herausfinden können, indem wir ein vollständiges Genom herstellen. Das hängt natürlich immer davon ab, ob wir die Möglichkeit finden, ausreichend viel genetisches Material zu untersuchen. Aber unsere Hoffnung ist, dass wir noch deutlich mehr über diese Population und über diese Frau sagen können.“
Ein Name wird gesucht
Soweit der Wissenschaftler Kay Prüfer vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie. Seine Arbeit, die Einblicke in die Urzeit bietet, verläuft am Computer. Den eigentlichen Schädel der Frau aus der Koněprusy-Höhle hat er nie mit eigenen Augen gesehen. Diese Möglichkeit bietet sich derzeit aber für die breite Öffentlichkeit im Nationalmuseum in Prag. Dort wird er in einer Vitrine im Pantheon ausgestellt. Gleich daneben steht zudem eine lebensechte Plastik der Frau. Dank dem Bildnis, das von der französischen Künstlerin Elisabeth Daynès geschaffen wurde, erhält man eine Vorstellung vom Aussehen dieser entfernten Vorfahrin des heutigen Menschen. Allerdings habe die Veranschaulichung einen Haken, hat der Generaldirektor des Nationalmuseums, Michal Lukeš, in den Inlandssendungen des Tschechischen Rundfunks erläutert:
„Die Plastik der Dame wurde erstellt, noch bevor man sie um 30.000 Jahre älter datiert hat. Auf diese Dame wartet daher eine neue Reise nach Paris. Die Gesichtszüge bleiben unverändert, weil sie aufgrund der Untersuchung des Schädels geschaffen wurde. Salopp formuliert, hat sich aber die Mode innerhalb der 30.000 Jahre gewissermaßen entwickelt. Wir müssen sie daher umziehen. Sie hat damals nur Pelz tragen können und noch keine Bekleidung aus Gewebestoff und Textil. Aufgrund der DNA-Analyse hat sich zudem herausgestellt, dass ihre Haut, Haare und Augen viel dunkler waren, da ihre Vorfahren kurz zuvor aus dem Süden Afrikas gekommen waren.“
Das Nationalmuseum hat zudem eine Umfrage auf Social Media veröffentlicht, in der ein Name für die Ur-Europäerin gesucht wird.
„Als ich den Bericht über die Forschungsergebnisse las, habe ich zuerst nicht begriffen, dass es sich um diese Dame handelt. In der Fachsprache war von einem Individuum die Rede. Der Fund wurde Zlatý kůň benannt – nach dem Ort, an dem die Schädelknochen entdeckt wurden. Das scheint mir aber unhöflich gegenüber dieser Dame. Ich denke, dass sie einen eigenen Namen erhalten sollte. Wir haben daher wir die Öffentlichkeit via Facebook aufgefordert, relevante Namen vorzuschlagen. Eine Jury wird fünf der Vorschläge auswählen und der Öffentlichkeit zur Abstimmung anbieten. So möchten wir einen Namen für sie finden. Wie sie tatsächlich hieß, werden wir natürlich nie erfahren.“
Bei der Namenswahl sind Zlata, Minehava, Velena, Genoma und Berounka in die engere Auswahl gekommen.
Der Schädel wird bis 2. Juli im Pantheon des Nationalmuseums auf dem Wenzelsplatz in Prag gezeigt. Danach soll er in die ständigen naturwissenschaftlichen Ausstellungen des Nationalmuseums übernommen werden.