Wildschweinen auf der Spur: Deutscher Anthropologe forscht an Tschechischer Akademie der Wissenschaften
Der deutsche Anthropologe André Thiemann forscht an der Tschechischen Akademie der Wissenschaften. Dabei untersucht er die Frage, wie Menschen mit Wildschweinen und der Schweinepest umgehen.
André Thiemann ist zurzeit auf Feldforschung. Wer den Anthropologen anruft, erreicht ihn deswegen etwa in einem alten serbischen Bergarbeiter-Dorf. Er kommt gerade zurück aus dem Djerdap-Nationalpark, wo er sich Bilder angesehen hat, die mit einer Kamerafalle aufgenommen wurden. Denn Thiemann ist auf der Suche nach Wildschweinen.
Der Forscher stammt aus Deutschland und hat seinen Doktor an der Martin-Luther-Universität in Halle-Wittenberg gemacht. Seit anderthalb Jahren arbeitet er an der Tschechischen Akademie der Wissenschaften in Prag, in der Abteilung für ökologische Anthropologie. Wenn er nicht gerade auf Forschungsreise ist, wohnt er auch in der tschechischen Hauptstadt. Thiemann berichtet:
„Prag ist wirklich eine großartige Stadt. Und im Gegensatz zu Riga – die auch toll ist – ist sie nah genug, damit Freunde aus Berlin auch mal vorbeikommen. Es ist natürlich besonders schön, wenn man am Wochenende gemeinsam mit Freunden die Stadt erkunden kann.“
Thiemann hat zuvor schon etwa in Budapest und Riga geforscht, damals zum Export von Himbeeren und Sanddornbeeren. Über eine Bekannte sei er zu jenem Projekt gekommen, wegen dem er nun in den serbischen Bergen nach Wildschweinen sucht. BOAR heißt es – das englische Wort für die borstigen Tiere. Die Mitarbeiter des Projekts forschen in neun Ländern Europas, unter anderem auch in Tschechien und Deutschland. Thiemann selbst reist immer wieder nach Serbien.
„Meine Forschung ist Teil eines größeren Programms, das vom European Research Council gefördert wird. Es beschäftigt sich mit der Problematik von Afrikanischer Schweinepest in Europa. Es geht darum, wie Menschen, die sich mit Wildschweinen und Hausschweinen beschäftigen – also Jäger, Ranger, Landwirte und Nahrungsmittelproduzenten –, damit umgehen, dass in Ländern wie Serbien seit mehreren Jahren eine schwer zu kontrollierende und ziemlich tödliche Krankheit unter den Schweinen herrscht. Diese führt dazu, dass sich für diese Menschen die Lebensgrundlage oder ein Teil dieser verändert“, erläutert der Anthropologe.
Die Afrikanische Schweinepest ist eine Viruserkrankung, die zwar für Menschen harmlos ist, bei Schweinen aber eine hohe Sterblichkeit verursacht. In Mitteleuropa wird sie beim Kontakt mit infizierten Tieren übertragen, aber auch über Schweinefleischerzeugnisse oder sogar kontaminierte Jagdausrüstung.
Die Borstentiere im Nationalpark
Die Krankheit hat auch den Nationalpark getroffen, in dessen Nähe Thiemann gerade am Telefon sitzt. Die Region habe ihm ein serbischer Kollege empfohlen, der von dort stammt, sagt er. Thiemann hat nach eigenen Angaben schon mit Jägern, einem Tierarzt und Rangern des Nationalparks gesprochen. In dem Park seien 2019 und 2021 sehr viele Tiere an der Schweinepest verendet.
„Dieses Jahr erholt sich die Schweinepopulation schon langsam. Das liegt an einem Zusammenspiel von verschiedenen Faktoren. Auf der einen Seite waren wohl 2020 und 2023 relativ warme Jahre. Vergangenes Jahr gab es auch noch eine Eichelmast. Das bedeutet, dass viele Eicheln gefallen sind. Sie sind eine der Lieblingsspeisen der Wildschweine. Die Tiere konnten sich also den Bauch vollschlagen und haben den warmen Winter gut überlebt. Dieses Jahr ist zudem eine Bucheckernmast. Außerdem werden die Tiere im Moment nicht so stark gejagt, weil der Bestand sich erholen soll. Und ihr natürlicher Fressfeind, der Wolf, ist 2022 weggewandert“, sagt Thiemann.
Denn in dem Jahr habe die Schweinepest in anderen Regionen ihr Unwesen getrieben. Die verendeten Borstentiere seien dann gefundenes Fressen für die Wölfe gewesen, erläutert der Experte weiter. Die Wildschweinpopulation im Park habe sich daher in den vergangenen zwei Jahren schnell wieder erholt. Der Wissenschaftler berichtet:
„Wir haben heute wahnsinnig viele Wildschweinspuren gesehen. Spuren etwa davon, wie sie Trüffel gesammelt haben. Und eine Suhle, in der sie offensichtlich Spaß hatten. Die Tiere haben auch den Boden durchgewühlt, in dem Wildhaselnüsse zu finden waren. Es ist erstaunlich, wie dieses Tier sich anpasst und trotz Rückschlägen wieder zurück in die Natur kämpft.“
Das BOAR-Projekt sei aus mindestens zwei Gründen relevant, sagt der Wissenschaftler. Etwa für die Forschung…
„Für die Ethnologie, also für die Wissenschaft vom Menschen, ist es wichtig zu verstehen, wie Menschen in ihrer Umwelt handeln. Wir wollen den Fokus vom Menschen etwas weglenken und einen weiteren Blick darauf werfen, wie wir mit Tieren und der Umwelt umgehen – wie diese also auch auf uns einwirkt und nicht nur wir auf Sie. Dies ist eine Veränderung weg von dem westlichen Menschenbild, dass der Mensch sich die Natur untertan macht – was ja auch schon in der Bibel vorkommt. Das Bild bewegt sich hin zu einem realistischeren Verständnis davon, dass wir auch abhängig sind von dieser Umwelt und dass diese ebenso Einfluss auf uns nehmen kann. Massiven Einfluss, wie wir immer mehr merken in Zeiten der Klimakatastrophe“, erläutert Thiemann.
Um das zu erforschen, seien Wildschweine als Fallbeispiel besonders gut geeignet, erläutert der Experte weiter. Das Projekt interessiere sich aber auch für die wirtschaftliche Dimension. Denn dort, wo die Afrikanische Schweinepest auftrete, könne sie im schlimmsten Falle 90 bis 95 Prozent der Schweine dahinraffen, so der Forscher. Das sei dann natürlich relevant für die Jagd und auch die Schweinehaltung. Thiemann sagt:
„In Tschechien und Deutschland werden darum sogar stärkere Sicherheitsmaßnahmen getroffen. Die Haltung wird teurer. Das können sich manche Bauern nicht leisten und geben auf. Dadurch steigt der Preis, und die Produktion sinkt.“
Der Anthropologe erläutert weiter:
„Die Maßnahmen können natürlich Vorteile haben, weil manche Bauern dann sichereres Fleisch anbieten. Aber sie können auch Nachteile haben. Das betrifft gerade Bio-Bauern, die versuchen, ihre Tiere in natürlichen Haltungsformen aufzuziehen. Sie haben ein Problem, denn Wildschweine und Hausschweine können das Virus untereinander übertragen. Bauern, die ihre Tiere etwa im Wald sehr natürlich gehalten haben, ist dies nun nicht mehr möglich. Das sind wirtschaftliche Probleme, die gerade Kleinbauern und Bio-Bauern betreffen. Unser Projekt könnte sie unterstützen, dem Tierwohl zugeneigte Halteformen so an die Krankheit anzupassen, dass sie weitermachen können und dass diese Halteformen sich vielleicht sogar ausbreiten.“
Wissenschaft und Leben in Tschechien
Thiemann spricht Serbisch und kann sich so auf seinen Forschungsreisen gut verständigen. Außerdem kann er noch Deutsch, Englisch, Französisch und Russisch. Nur leider kein Tschechisch, sagt der Forscher. Er versuche es in Prag dann oft auch mit Serbisch.
„Ich verstehe schon ein bisschen etwas. Dann spreche ich drauf los, und wenn ich Glück habe, verstehen mich die Leute. Manchmal aber auch nicht. Man kann sich das vorstellen wie Holländisch und Deutsch: Man versteht eine ganze Menge, aber wenn man dann redet, läuft es doch nicht so gut“, sagt der Forscher.
Viele seiner Kollegen in Prag hätten an westlichen Universitäten studiert oder gelehrt, berichtet der Forscher weiter. Sie seien außerdem sehr gut vernetzt.
„Es ist ein tolles Niveau. Mir gefällt hier außerdem die Offenheit für Wissenschaftler aus anderen Ländern – die Bereitschaft, sie aufzunehmen und mit ihnen zu forschen. Das macht großen Spaß.“
Die wissenschaftliche Arbeit in Tschechien habe Vor- und Nachteile, berichtet Thiemann. Forschende, die viel leisten – etwa zahlreiche Seminare geben –, würden in Tschechien oft eine feste Stelle bekommen. In Deutschland dagegen komme es eher darauf an, wie häufig man in wissenschaftlichen Fachzeitschriften publiziere. Es gebe aber auch Nachteile an der Arbeit in Tschechien:
„Ich finde negativ, dass das Grundgehalt unheimlich niedrig ist. Selbst im Vergleich zu den anderen Ländern, in denen ich gelebt habe – Ungarn und Lettland –, ist es so gering, dass man von einem Gehalt nicht leben kann. Man muss dann beim Einwerben von Drittmitteln unbedingt erfolgreich sein, um sich überhaupt einen normalen Lebensstandard finanzieren zu können. Das ist in Deutschland nicht so. Wenn man dort einmal eine feste Stelle hat, ist man nicht auf weitere Mittel angewiesen.“
Das BOAR-Projekt selbst habe aber sehr großzügige Forschungsgelder bekommen. Daher hat Thiemann viel Zeit für Feldforschung in und um Serbien, wie eben in dem Djerdap-Nationalpark. Ob er denn dort schon Wildschweine getroffen habe?
„Das Witzige ist, dass man Wildschweinen eher in Großstädten wie Berlin, Barcelona oder Rom begegnet. Denn dort gewöhnen sie sich an die Menschen. Die Tiere sind neugierig und merken dann, dass es bei Menschen auch Mülleimer gibt, in denen man etwas zu essen finden kann. Oder die Schweine finden schick gemachte und bewässerte Vorgärten, in denen sie gut an die Tulpenzwiebeln kommen. Da sind sie dann relativ kess. Hier im Nationalpark dagegen sind die Tiere eher scheu“, sagt der Anthropologe.
Begegnet sei er schon sogenannten Moravkas, also Hausschweinen einer alten Sorte.
„Die sehen ein bisschen aus wie Wildschweine, weil sie auch viele schwarze Borsten haben. Die Tiere leben halb im Freien. Sie sind im Dickicht oder im Wald eingezäunt, auf einer Fläche von etwa einem halben bis einem Hektar. Die Tiere sind sehr niedlich und auch zahm, sodass man sie streicheln kann. Das ist dann sehr süß. Aber Wildschweinen selbst bin ich noch gar nicht begegnet.“
Und abschließend berichtet Thiemann:
„Das macht die Forschung natürlich auch ein bisschen schwerer. Durch Kamerafallen bekommt man einen kleinen Einblick, wie Wildschweine in der Gruppe leben. Gestern etwa habe ich auf einer Kamerafalle 13 Tiere gesehen. Der Jagdleiter meinte, es sei interessant, dass sie jetzt große Gruppen bilden.“
Langsam würden die Wölfe zurückkehren, da nun die Schweinepest auch in anderen Regionen weniger häufig ihr Unwesen treibe. Die Wildschweine würden daher große Gruppen bilden, um sich verteidigen zu können, gibt Anthropologe André Thiemann wieder.