Der Tempel – eine Zeitreise durch Mladá Boleslav
Eine Kultureinrichtung ungewöhnlichen Zuschnitts ist der sogenannte „Tempel“ in Mladá Boleslav / Jungbunzlau. Das dreigeschossige Bauwerk entstand Ende des 15. Jahrhunderts als Patrizierpalast für die dortigen Burgvögte. Als dieses Amt in der Neuzeit überflüssig wurde, versank der Bau am Rande der Altstadt in einen Dornröschenschlaf. Erst in den 1980er Jahren veranlasste die Stadt den historisch getreuen Wiederaufbau. Seit der Jahrtausendwende dient der Tempel als städtisches Museum, Galerie und Veranstaltungszentrum.
Von außen ist dem kastenartigen Bauwerk, das auf einem Felsmassiv hoch über einer Flussbiegung der Jizera / Iser thront, das hohe Alter nicht anzusehen. Die modernisierte Fassade lässt den Tempel wie ein großes Bürgerhaus erscheinen. Im Gebäudeinneren tritt die mittelalterliche Architektur jedoch deutlich hervor. Die verwinkelte Raumanordnung, die gotischen Kreuz- und Tonnengewölbe sowie die engen Verbindungsgänge strahlen die Atmosphäre längst vergangener Zeiten aus. Sie bilden ein bezauberndes Ambiente für die Kulturschätze, die der Tempel für seine Besucher bereithält. Der Rundgang kommt einer Zeitreise durch die Stadt und Region Mladá Boleslav gleich, von der Urgeschichte bis zur Gegenwart. Die Leiterin des Tempels, Alena Nastoupilová, gibt einen Überblick, was es in ihrem Haus alles zu sehen und zu erleben gibt:
„Im Souterrain ist der archäologische Teil der Dauerausstellung untergebracht. Jeder Raum ist einem bestimmten Thema gewidmet. Im Erdgeschoss werden das Mittelalter und die Neuzeit bis zum frühen 17. Jahrhundert präsentiert. Und im oberen Stock sind Galerieräume. Dort zeigen wir Ausstellungen mit Fotografien, Bildern und Plastiken zeitgenössischer Künstler und halten Vorträge, Fortbildungen für Schulen und andere Kulturveranstaltungen ab.“
Mythische Goldspiralen
Der Rundgang durch die Dauerausstellung beginnt im Souterrain. Ausländische Besucher können Broschüren mit auf den Weg nehmen, die es in Deutsch und Englisch gibt. In der archäologischen Abteilung werden ein nachgebautes keltisches Heiligtum, urzeitliche Bestattungsformen sowie Grabbeigaben, wie Gefäße, Waffen und Schmuck, gezeigt. Die Funde stammen durchwegs aus der Region Mladá Boleslav. Auffällig umfangreich ist die Sammlung von Speerspitzen.
„Wir zeigen hier die verschiedensten Speerspitzen, angefangen von den ältesten Objekten aus der Steinzeit bis zu solchen aus dem Mittelalter. Diese Sammlung haben wir deswegen zusammengetragen, weil Mladá Boleslav der Geburtsort von Speerwurf-Weltmeister Jan Železný ist. Železný hat drei olympische Goldmedaillen gewonnen“, so Nastoupilová.
Ein Mythos rankt sich um das Ensemble von Goldspiralen. Sie seien mit dem Volksglauben an die Heilkraft einer nahen Quelle verbunden. Dazu die Leiterin des Tempels:
„In der Nähe von Mladá Boleslav ist die Anhöhe Chlum. Dort ist eine Mineralquelle, die ‚Gottesquelle‘ genannt wird. Schon vor sehr langer Zeit holten die Menschen dort Heilwasser, und das blieb bis ins vergangene Jahrhundert so. Es gab dort sogar eine Ausflugsgaststätte. Als die Quelle einmal gereinigt wurde, fand man goldene Spiralen. Sie wurden offenbar in der Bronzezeit als Zeichen der Verehrung hineingeworfen.“
Die nächste Station auf dem Rundgang ist der ehemalige Pferdestall des Tempels. Dort wird die Frühgeschichte von Mladá Boleslav beleuchtet. Eine sorgsam rekonstruierte Fundstelle enthält ein Frauenskelett. Alena Nastoupilová ordnet es salopp wie folgt ein:
„Wir haben hier die älteste Einwohnerin von Mladá Boleslav vor uns. Dieser Fund stammt aus dem 10. Jahrhundert. Er wurde ganz in der Nähe gemacht. Die Frau wurde ungefähr 50 Jahre alt. Bei dem Gässchen, durch das man vom Altstädter Platz zum Tempel gelangt, wurden in den 1990er Jahren drei Häuser wegen statischer Mängel abgerissen. Dabei wurden in den Grundmauern Gräber freigelegt. Neben der Burg stand dort also eine Kirche. Und um diese Kirche herum war ein Gräberfeld.“
Eine Stadt sei Mladá Boleslav erst einige Jahrhunderte später durch die Privilegien Jan Ješeks von Michalovice geworden, so die Chefin:
„Die Entwicklung zur Stadt begann 1334. Damals verlegte der Fürst von Michalovice seinen Sitz von Podolec hierher, auf das Gelände der heutigen Altstadt, das ursprünglich ‚auf den Gräbern‘ hieß. Und bei seinem Kastell, das später zur Burg ausgebaut wurde, entstand dann eine neue Siedlung.“
Aus dieser Ritterzeit sind unter anderem Waffen und Bruchstücke von Kirchen im Tempel vorhanden. Die wachsende Bedeutung des Adelsgeschlechts von Michalovice dokumentiert ein Siegel aus rotem Wachs, das die Familie verwenden durfte. Im Jahr 1600 wurde Mladá Boleslav zur Königsstadt erhoben. Ein Faksimile der entsprechenden Urkunde Kaiser Rudolfs II. ist ebenso in den Vitrinen des Tempels zu sehen wie Verwaltungsbücher und Münzen. Der Palast der Verwalter gehörte da schon lange zum Stadtbild. Nastoupilová weist auf eine Vedute hin, also eine realitätsgetreues Panoramaansicht der Stadt, auf der sein Standort eingezeichnet ist:
„Den Stadtpalast ließ Jan Císařovský z Hliníka, der Verwalter des Gutes von Mladá Boleslav, um das Jahr 1490 errichten. Der Bau war in die Stadtmauer eingebunden und erfüllte eine Wehrfunktion. Er ist einer von wenigen mittelalterlichen Stadtpalästen, die in Tschechien bis heute erhalten sind. Daneben war eine Pforte, sie führte durch die Stadtmauer über eine Treppe zur Jizera hinunter. Die Besitzer, die den Palast im Laufe der Zeit nutzten, hatten die Pflicht, sich um diese Pforte zu kümmern.“
Historische Landkarte
Seine heutige Bezeichnung „Tempel“ erhielt der Palast jedoch erst in der Zeit der Romantik. Der Name geht auf das Kreuz zurück, das Jan Císařovský z Hliníka in seinem Wappen führte und das dem Tatzenkreuz des Templerordens gleicht. Aus der frühen Neuzeit stammt ein historisch bedeutendes Werk der Kartographie.
„In Mladá Boleslav entstand die Landkarte von Mikuláš Klaudián, und zwar 1518. Die Karte wurde hier entworfen, gedruckt wurde sie jedoch in Nürnberg. Interessant ist, dass die Landkarte seitenverkehrt nach Süden ausgerichtet ist. Wahrscheinlich, damit die Pilger bei der Reise nach Rom die Karte nicht umdrehen mussten. Und der darauf abgebildete Wagen, den Pferde entzwei zu reißen versuchen, soll symbolisieren, dass es nur einen Glauben gibt“, so Nastoupilová.
Es handelt sich um die älteste gedruckte Landkarte von Böhmen. Mikuláš Klaudián gehörte der Unität der Böhmischen Brüder an. Er betrieb in Mladá Boleslav eine Druckerei, in der wichtige religiöse Schriften dieser protestantischen Glaubensgemeinschaft verlegt wurden. Mladá Boleslav bildet so ein wichtiges Kapitel in der Geschichte der Böhmischen Brüder. Mehrere Vitrinen bringen dies in einem Raum mit einem gotischen Kreuzgewölbe wirkungsvoll zur Geltung. Nach 2006 konnte dieser Abschnitt dank einem sensationellen Fund weiter vertieft werden. Damals wurde im Zuge von Bauarbeiten die schriftliche Hinterlassenschaft von Matouš Konečný entdeckt. Das war ein Verwalter, Schriftsteller und Bischof der Brüderunität, der zu Beginn des 17. Jahrhunderts in Mladá Boleslav wirkte. Alena Nastoupilová betont die große historische Bedeutung dieses Bestandes:
„Dieser sogenannte ‚Schatz des Matouš Konečný‘ besteht aus den Briefen des letzten hiesigen Bischofs der Brüderunität. Und diese Schreiben liegen uns im Original vor! Sie wurden erst unlängst bei der Sanierung des Areals Na Karmeli gefunden. Das ist ein einzigartiger Fund.“
Einer der Briefe stammt zum Beispiel von dem gelehrten Diplomaten Václav Budovec z Budova, der nach dem Ständeaufstand 1621 auf dem Altstädter Ring in Prag hingerichtet wurde.
Ein Schlaglicht auf die technische Stadtentwicklung wirft ein Rohrstück der ältesten städtischen Wasserleitung, die aus Kiefernholz bestand. Eine herausragende Handwerkerleistung stellt ein kompliziertes Antriebswerk einer Turmuhr aus dem Jahr 1563 dar, die früher auf dem Rathausturm tickte.
Mit all diesen Highlights aus der städtischen und regionalen Geschichte ist der Tempel zu einem regelmäßigen Partner der Schulen geworden. Immer wieder kommen Schulklassen dorthin, um auf Tuchfühlung mit der Geschichte ihrer Heimat zu gehen und sich diese aktiv zu erschließen. An den Arbeitstischen, die im ganzen Gebäude verteilt stehen, können die Schüler in Kleingruppen Projekte durchführen. Der archäologische Spielplatz im ehemaligen Zwinger, einem Außenbereich des Tempels, regt die Kinder an, sich im Ausgraben verborgener Schätze zu versuchen. Doch auch die Brauchtumspflege kommt im Tempel nicht zu kurz. Zu bestimmten Feiertagen oder saisonalen Anlässen laden spezielle Programmangebote zum Mitmachen ein.