Eher Partner als Nachbarn: Zum Stand der tschechisch-deutschen Beziehungen
Sind Tschechen und Deutsche gute Nachbarn? Das war die Ausgangsfrage einer Debatte, die der Tschechische Rundfunk im Februar vor Live-Publikum im grenznahen Ústí nad Labem / Aussig veranstaltet hat. Das Podium war besetzt mit fünf langjährigen Akteuren der bilateralen Beziehungen. Die Qualität der politischen Kontakte hat niemand von ihnen angezweifelt. Aber auf zwischenmenschlicher Ebene gibt es den Einschätzungen nach immer noch Verbesserungspotential. Diesbezüglich könnte für die Zukunft auch einiges aus den gemeinsamen Erfahrungen in der Corona-Pandemie gelernt werden, hieß es.
Die Frage, ob Tschechen und Deutsche heute gut miteinander auskommen, wird von den Diskussionsteilnehmern ebenso wie vom Publikum in Ústí nad Labem als beinahe rhetorisch aufgefasst. Eine schnelle Abstimmung ergibt, dass kaum jemand im Saal sie nicht bejahen würde. Milan Šlachta, Präsident der Deutsch-Tschechischen Industrie- und Handelskammer, geht sogar noch einen Schritt weiter:
„Wenn wir davon reden, ob wir gute Nachbarn sind, ruft dies in mir das Bild von zwei Einfamilienhäusern mit einem Zaun dazwischen hervor. Ein guter Nachbar ist jemand, der seinen Abfall nicht auf mein Grundstück wirft und mich ab und zu zum Grillen einlädt. Ich würde aber eher fragen, ob wir gute Partner sind. In meiner Branche sind wir das. Vor 30 Jahren war dies noch anders, aber inzwischen sind wir schon viel weiter. Darum würde ich lieber von einer Partnerschaft sprechen.“
Die Grundlage für diese Entwicklung bildet die Deutsch-Tschechische Erklärung, die am 21. Januar 1997 unterzeichnet wurde. Sie belege, dass die Politik in der Verbindung der beiden Länder eine grundlegende Rolle spiele, sagt Lukáš Novotný. Er ist Politologe an der Jan-Evangelista-Purkyně-Universität in Ústí nad Labem:
„Eine Sache ist es, eine historische Etappe auf dem Papier zu ‚beenden‘. Das andere ist, dass die Akteure die neue Etappe mit Leben füllen. Dies sind vor allem jene, die persönliche Erfahrungen gemacht haben in den verschiedenen Krisenphasen der tschechisch-deutschen Interaktion. Dahingehend wurde die Deklaration auch nicht ganz einfach aufgenommen. Heute benutzen wir die Geschichte zum Glück aber nicht mehr als Waffe, mit der das Gegenüber geschädigt werden soll. Sondern wir bauen auf ihr die gemeinsamen Beziehungen auf.“
Deutsch-Tschechische Erklärung als kleiner Sieg
Von diesen Beziehungen ist auch das Leben und Werk des Schriftstellers Jaroslav Rudiš bestimmt. Er stammt aus dem Böhmischen Paradies und lebt heute abwechselnd in Tschechien und in Deutschland. An die Veröffentlichung des bilateralen Dokumentes vor 25 Jahren erinnert er sich wie folgt:
„Für mich war dies ein wirklich wichtiger Moment. Ich habe damals noch an der pädagogischen Fakultät in Liberec studiert und erinnere mich sehr genau daran. Die Deutsch-Tschechische Erklärung war ein kleiner Sieg, mit dem das Feuer und die Leidenschaften etwas beruhigt wurden. Das Erreichte muss aber gepflegt werden, denn der Nationalismus taucht auf beiden Seiten immer wieder als Bedrohung auf.“
Die Pflege der gemeinsamen Beziehungen auf höchster Ebene liegt aktuell in den Händen einer neuen Regierung sowohl auf tschechischer als auch auf deutscher Seite. Gefragt, ob die gute Nachbarschaft von einem Wechsel der jeweiligen politischen Führung beeinflusst wird, antwortet die Journalistin Bára Procházková:
„Die Politiker sind eigentlich gar nicht so wichtig. Wenn die Regierung ausgewechselt wird, verändern sich die gemeinsamen Beziehungen nicht von einem Tag auf den anderen. Davon sind sie nämlich nicht abhängig. Wichtig sind die persönlichen zwischenmenschlichen Kontakte. Auf ihnen baut alles auf, und dies auf der tschechischen Seite noch etwas mehr als auf der deutschen. Historisch gesehen waren die Kontakte zwischen den einzelnen politischen Parteien am besten, als in beiden Ländern die Sozialdemokraten regierten. Hierbei ist an die Namen Gerhard Schröder und Jiří Paroubek und das enge Verhältnis zwischen ihnen zu erinnern. So intensiv waren die Beziehungen der vorrangig konservativen Regierungsparteien in den letzten 10 bis 15 Jahren nicht.“
Allerdings haben sich in dieser Zeit auch viele der gemeinsam zu diskutierenden Themen auf die Ebene der Europäischen Union verlagert. Diese wurde bei der Debatte von Alexandr Vondra vertreten. Der heutige Europaabgeordnete der tschechischen Bürgerdemokraten war in den 1990er Jahren einer der Verhandlungsführer für die Deutsch-Tschechische Erklärung. Er warnt davor, die guten Beziehungen der beiden Länder für selbstverständlich zu halten:
„Aus heutiger Sicht sind die letzten 30 Jahre natürlich wunderschön. Das gute Verhältnis ist aber nicht auf immer garantiert. Wenn wir es nicht pflegen, kann es uns abhandenkommen. Politiker können dabei helfen oder dem Ganzen auch schaden. Eines müssen wir allerdings ganz deutlich sagen: Die Deklaration von 1997 bildet vielleicht den Rahmen, damit die Politiker nicht allzu viel Schaden anrichten. Aber dass die Beziehungen heute so sensationell sind, das haben wir dem Business zu verdanken.“
Kooperation in Industrie und Handel entwickeln sich unabhängig von Politik
Handelskammerpräsident Milan Šlachta übt sich in etwas mehr Bescheidenheit und spricht von einem großen Beitrag, den die wirtschaftlichen Kooperationen leisten. Dennoch bestätigt er:
„Schon heute ist die Zusammenarbeit im Handel und vor allem in der Industrie auf einem ganz anderen Level. Sie ist nicht abhängig von der Ausrichtung der Politik. Auch in Tschechien finden sich heute ein Knowhow und eine Kompetenz für Technologie und Prozesse, die es nicht gäbe, wenn die Investoren diese hier in den letzten 30 Jahren nicht eingeführt hätten. Dies passierte schnell und jenseits der Politik. Sicher ist es aber gut, wenn dies auf beiden Seiten honoriert wird und wenn der Mehrwert, den wir schaffen, auch politische Unterstützung bekommt.“
Ein Aspekt der gemeinsamen wirtschaftlichen Beziehungen wurde erst in der Corona-Krise deutlich sichtbar. Als die Grenzen bei Ausbruch der Pandemie plötzlich geschlossen wurden, hatten vor allem Arbeitspendler mit den Folgen zu kämpfen. Diesbezüglich hätten die tschechisch-deutschen Beziehungen durchaus gelitten, meint Politologe Lukáš Novotný. Wie er in Dutzenden persönlichen Gesprächen erfahren habe, herrschte damals gerade unter Pendlern eine große Unsicherheit und Irritation. Sie hätten Angst vor der Rückkehr nach Hause und einer möglichen Quarantäne gehabt, weil sie dadurch ihre Arbeitsplätze gefährdet sahen, resümiert der Wissenschaftler. Und noch heute wisse man gar nicht genau, wie viele Menschen eigentlich täglich von einem Land ins andere zur Arbeit pendelten:
„In der Pandemie hat sich gezeigt, welch große Rolle Pendler und damit tschechische und polnische Arbeitskräfte in Deutschland spielen. Nicht weit von Ústí liegt Pirna, und dort ist etwa jeder fünfte Busfahrer ein Tscheche. Das ist nicht wenig, und diese Beispiele ließen sich fortführen für Bereiche wie soziale Versorgung oder Krankenpflege. Die Pendler waren damals also in einer sehr schwierigen Situation. Und allein weil die Grenzen nun wieder offen sind, brauchen wir wirklich robuste Beziehungen zwischen den beiden Ländern. Bei der Entwicklung von weiteren Krisenszenarien sollte dann vor allem an diese Gruppe von Arbeitnehmern gedacht werden, die wirklich wichtig ist. Denn sie nutzen einfach nur die Vorteile des Schengen-Abkommens.“
Mit Blick auf die Pendler hat der Deutsch-Tschechische Zukunftsfonds eine Studie durchführen lassen zum Stand der zwischenmenschlichen Kontakte zwischen Tschechen und Deutschen. Diese seien in der Praxis oft sehr pragmatisch, berichtet Tomáš Jelínek. Der Leiter der Organisation hatte für die Debatte einen Beitrag vorbereitet, in dem er die weiteren Ergebnisse der Umfrage zusammenfasste:
„Wir haben herausgefunden, dass sich auch die Arbeitsbeziehungen nur selten zu freundschaftlichen Bindungen weiterentwickeln. Dies schlägt sich in gewisser Weise natürlich in gegenseitigen Vorurteilen nieder. Es hat uns überrascht, dass die Bewohner der Grenzgebiete die zeitweiligen Schließungen während des Lockdowns nicht besonders gestört haben. Noch wichtiger ist für uns aber die Erkenntnis, dass die Menschen mit diesem aktuellen Zustand nicht sehr zufrieden sind. Sie würden ihre Nachbarn gerne besser kennenlernen und in engere Beziehungen mit ihnen treten. Oft wissen sie allerdings nicht wie.“
Mentalitätsunterschiede als Bereicherung sehen
Politologe Novotný verweist in diesem Zusammenhang auf Projekte, bei denen etwa Kindergärten in Görlitz und der Euroregion Neiße zusammenarbeiten. Auch Journalistin Bára Procházková plädiert dafür, dass eine Annäherung bereits im Kindesalter stattfinden sollte. Und auf das Stichwort der Mentalitätsunterschiede zwischen Tschechen und Deutschen reagierte sie wie folgt:
„Die Mentalitäten beider Seiten haben Vor- und Nachteile. Und darum ist es wichtig, sie zu verstehen. Das ist nicht immer einfach. In den letzten Jahren ist dies zudem schwieriger geworden, weil Tschechien in den ausländischen Zeitungen nicht mehr auf den Seiten zum außenpolitischen Geschehen auftaucht, sondern auf den bunten Seiten mit Kuriositäten und bizarren Meldungen – und das ist schlecht.“
In der Debatte wurde deutlich, dass die Maßnahmen zur Bewältigung der Corona-Pandemie zu dieser Wahrnehmung Tschechiens auch in Deutschland eher noch beigetragen haben. Allgemein wurden die Schritte der damaligen Regierung als chaotischer und weniger vorausschaubar eingeschätzt als das, was auf deutscher Seite beschlossen wurde. Zur Frage, ob daraus Lehren für die Zukunft gezogen werden und eine einheitlichere Koordinierung auf EU-Ebene möglich wäre, äußert sich Alexandr Vondra eher skeptisch. Die Gesundheitsversorgung, so meint der Abgeordnete, bleibe wohl eher in der Verantwortung der einzelnen Nationalstaaten. Aber es gebe weitere Bereiche der Zusammenarbeit:
„Diese ist sicherlich sinnvoll auf dem Gebiet der Wissenschaft und Forschung. Dort ist die Arbeit heute so teuer, dass es klug ist, die Mittel zusammenzulegen. Außerdem ist wichtig zu koordinieren, was in der Europäischen Union das Wertvollste ist: nämlich die freie Bewegung von Menschen, Waren, Dienstleistungen und Kapital. Für diese dürfen keine größeren Hürden als nötig geschaffen werden.“
Dies sage sich allerdings leichter, als es sich umsetzen ließe, räumte Vondra noch ein. Heruntergebrochen auf die zwei Nachbarländer Tschechien und Deutschland überwog unter den Diskutierenden aber letztlich die Einschätzung, dass man sich in den vergangenen zwei Jahren trotz unterschiedlicher Corona-Politik nicht wirklich voneinander entfremdet habe. Schriftsteller Jaroslav Rudiš ergänzte, dass er seinen Freunden in beiden Ländern die jeweils andere Haltung lediglich noch genauer erklären müsse. Dies kann wohl als ein Beleg dafür verstanden werden, dass ein nachbarschaftliches Neben- und Miteinander vor allem eine gute Kommunikation braucht.