Europaminister Bek: „Wir können der Ukraine schon jetzt den Kandidatenstatus geben“
Tschechien übernimmt am 1. Juli die EU-Ratspräsidentschaft. Dies geschieht in einer schweren Zeit für Europa angesichts des russischen Krieges gegen die Ukraine und der vielen Millionen Menschen, die deswegen geflüchtet sind. Für die Vorbereitung des tschechischen Vorsitzes im Europäischen Rat zeichnet unter anderem Europaminister Mikuláš Bek (Bürgermeisterpartei Stan) verantwortlich. Im Interview für die deutschen Sendungen von Radio Prag International schildert der 58-jährige Politiker und ausgebildete Musikwissenschaftler, was Tschechien in den anstehenden sechs Monaten innerhalb Europas erreichen will. Dabei geht es sowohl um ein mögliches siebtes Sanktionspaket gegen Russland, als auch um die EU-Erweiterung sowie den Green Deal.
Herr Minister Bek, der russische Angriff auf die Ukraine beeinflusst das Geschehen in Europa maßgeblich. Was bedeutet das für die tschechische Ratspräsidentschaft ab Juli und die Prioritäten?
„Wir mussten den Vorschlag für unsere Prioritäten neu schreiben, denn mit dem Beginn des Krieges hat sich alles vollständig gewandelt. Wir sehen große Veränderungen in Schweden und in Finnland, aber auch in Deutschland sowie allgemein in der europäischen Politik – und das müssen wir in den Prioritäten unserer Ratspräsidentschaft reflektieren.“
Welches sind die wichtigsten Prioritäten?
„Zuvorderst steht die Lösung der Flüchtlingskrise und hoffentlich auch der Wiederaufbau in der Ukraine nach dem Krieg. Eine weitere Priorität ist die Energiesicherheit, denn in vielen Ländern ist die Lage wegen des Krieges sehr schwierig geworden. Und wir brauchen mehr europäische Solidarität auf diesem Feld. Als dritte Priorität sehen wir die Erhöhung der europäischen Verteidigungskapazitäten. Das betrifft den militärischen Bereich genauso wie die Cybersicherheit. Als Viertes wird uns die strategische Widerstandsfähigkeit der europäischen Wirtschaft beschäftigen. Und bei der fünften Priorität geht es um die demokratischen Institutionen.“
Europa hat zu Anfang des Konflikts große Einigkeit gezeigt bei den Sanktionen gegen Russland. Nun aber mussten beim Ölembargo Ausnahmen gemacht werden, unter anderem auch für Tschechien. Bei Erdgas ist die Lage unter Umständen noch schwieriger. Wie schwer wird für die EU, in den kommenden Monaten oder vielleicht sogar Jahren weiter zusammenzuhalten gegenüber Russland?
„Ich möchte gerne betonen, dass die Einheit in Europa nie bedeutet hat, mit einer Stimme zu sprechen. Es ist keine einstimmige Musik, sondern immer eine Polyphonie mehrerer Stimmen, die aufeinander Rücksicht nehmen und nach einer Art Harmonie streben. Das heißt, es ist wichtig, einen Kompromiss zu finden. Manchmal dauert das, besonders bei Maßnahmen, die großen Einfluss haben auf die Mitgliedsstaaten. Dies ist logisch, aber ich halte es auch für in Ordnung, wenn wir einige Zeit brauchen. Wichtig ist das Ergebnis, der Kompromiss, der am Ende steht.“
Ist es denkbar, dass noch ein siebtes Sanktionspaket geschnürt wird? Und worum sollte es in diesem gehen?
„Während der tschechischen EU-Ratspräsidentschaft könnte über ein siebtes Sanktionspaket verhandelt werden.“
„Es ist durchaus möglich, dass während der tschechischen Ratspräsidentschaft über ein siebtes Sanktionspaket verhandelt wird. Ich schätze, dass dieses Paket weitere Personen und Firmen in Russland betreffen wird, aber wahrscheinlich auch Erdgas. Das heißt nicht, sofort die Einfuhr von russischem Gas zu beenden. Doch ich erwarte, dass wir einen Termin für einen endgültigen Ausstieg Europas festlegen, der auch verbindlich sein wird.“
Als Sorgenkind innerhalb Europas gilt derzeit Ungarn. So droht Orbán, das Ölembargo zu blockieren und stellt sich gegen Waffentransporte über ungarisches Gebiet. Wie lässt sich diese Lage lösen?
„Im Europaparlament läuft derzeit eine große Debatte darüber, die Verträge und das Entscheidungssystem der EU abzuändern. Einige Mitgliedsstaaten haben bereits den Willen kundgetan, mindestens zu einem Teil von der Einstimmigkeit wegzukommen. Ich halte dies auch wegen der Debatte um die Erweiterung der EU für sehr logisch, denn da spielen die Entscheidungsprozesse eine Rolle. In diesem Bereich muss ein Kompromiss gefunden werden. Wir selbst wollen die Debatte moderieren, und ich hoffe, dass wir noch während der tschechischen Ratspräsidentschaft zu einigen Lösungen kommen. Die Änderung der EU-Verträge ist eine andere Sache, sie dürfte Jahre dauern. Einige Mitgliedsstaaten fürchten, dieses Thema gerade jetzt, zu einer politisch und wirtschaftlich ungünstigen Zeit, zu eröffnen. Heute (am Donnerstag vergangener Woche, Anm. d. Red.) hat das Europaparlament abgestimmt, und wir werden sehen, wie schnell die Sache vorankommt.“
Wenn die Presseagentur ČTK Sie richtig zitiert hat, dann macht sich Tschechien stark für eine EU-Mitgliedschaft der Ukraine. Normalerweise ist die Integration eines Staates in die Union ein langer Prozess. Wie schnell könnte es denn gehen, die Ukraine aufzunehmen in die EU?
„Die tschechische Regierung setzt sich dafür ein, dass die Ukraine den Kandidaten-Status erhält. Wir wollen keinen schnellen Weg für das Land, es sollten alle Kriterien und Prinzipien eingehalten werden. Der Erweiterungsprozess nimmt mehrere Jahre oder vielleicht ein Jahrzehnt in Anspruch. Aber wir glauben, es sollte besser jetzt damit begonnen werden, als etwas Eigenes für die Ukraine vorzubereiten. Die Standards, die Kriterien, die institutionellen Veränderungen und die Rechtsstaatlichkeit sind alle wichtig. Wir denken, dass dies auch dabei hilft, die Flüchtlingskrise zu lösen sowie die Risiken von Hungersnöten in einigen Staaten Afrikas zu vermeiden. Für uns ist die Erweiterung der EU in Richtung Osten wichtig, aber wir wissen ebenso, dass dies noch lange Zeit brauchen wird. In Europa ist dafür eine offene Debatte nötig. Die Argumente müssen auf den Tisch gelegt werden, damit wir über sie diskutieren können.“
Kann denn schon während des Kriegs der Beitrittsstatus an die Ukraine verliehen werden?
„Eigentlich kann man der Ukraine bereits jetzt den Kandidatenstatus geben. Darüber wird wahrscheinlich schon beim Europäischen Rat im Juni verhandelt. Wir hoffen, dass der Status dann während der tschechischen Präsidentschaft verliehen wird. Aber es ist nur der Anfang des Weges für die Ukraine und nicht das Ziel.“
Was sagen aber Staaten wie Moldawien oder Georgien dazu, die ja auch in der Schlange stehen?
„Ich denke, wir brauchen eine komplexe Lösung. Ich studiere sehr gründlich die Vorschläge zum Beispiel von Frankreich für eine ‚europäische politische Gemeinschaft‘ (Konzept eines Europas der zwei Geschwindigkeiten, Anm. d. Red.). Und es gibt ein Papier von Österreich über eine Flexibilisierung des Erweiterungsprozesses. Weitere Vorschläge gehen dahin, auch in der Frage des Beitritts der Länder des Westbalkans nun voranzukommen. Ich weiß, dass es eine komplizierte Debatte ist. Die nötige komplexe Lösung könnte irgendwo zwischen diesen Vorschlägen liegen. Der Kandidatenstatus für die Ukraine, eine europäische politische Gemeinschaft, die Flexibilität des Erweiterungsprozesses und auch die Debatte über Mehrheitsabstimmungen im Rat sowie über transnationale Kandidatenlisten für die Wahlen in das Europaparlament – das alles gehört politisch zusammen, und wir müssen es diskutieren.“
Planen Sie während der Ratspräsidentschaft denn auch einen EU-Gipfel mit der Ukraine, zu dem eventuell der ukrainische Präsident Selenskyj kommen könnte?
„Wir hoffen, so etwas im Oktober in Prag organisieren zu können. Völlig klar ist aber, dass der ukrainische Präsident nur im Falle eines Waffenstillstandes oder Friedens in der Ukraine hier herkommt. Also kann es sein, dass er nur per Video zugeschaltet werden könnte. Zudem wird über die Möglichkeit diskutiert, auch die politischen Vertreter aus den Ländern des Westbalkans nach Prag zu holen. Das ist aber von den Fortschritten in dieser Region abhängig.“
In der Ukraine ist weiterhin unklar, wie der Krieg ausgeht. Aber den Kampf gegen den Klimawandel könnten wir demnächst schon verlieren. Droht nicht, dass der Ukraine-Konflikt den Green-Deal der EU ausbremst?
„Selbst die Kritiker des Green Deals sagen, dass die erneuerbaren Energien der Weg sind, um sich von Russland unabhängig zu machen.“
„Für uns ist klar, dass die Ziele des Green Deal bestehen bleiben. Sie sind bindend, es ist praktisch Gesetz. Derzeit wird über die schwierigere Frage der Instrumente diskutiert und über die Folgen und die Lastenverteilung in den Mitgliedsstaaten. Diese Debatte ist nicht gerade einfach. Gestern haben wir im Europaparlament einige Überraschungen erlebt (Das Europaparlament hat Teile des Klimapakets der EU zurückgewiesen, Anm. d. Red.). So schwierig die Debatte ist – seit Anfang des Krieges ist sie eigentlich einfacher geworden. Denn auch die Skeptiker und die Kritiker des Green Deals sagen jetzt, dass die erneuerbaren Energien eine Lösung für die Situation sind. Das ist der Weg, sich von Russland unabhängig zu machen. Allerdings wird es noch eine Zeit dauern, denn es geht um Arbeitsplätze sowie um das Überleben von Firmen in unterschiedlichen Ländern.“
Wenn Sie jetzt am 1. Juli die Ratspräsidentschaft von Frankreich übernehmen und sechs Monate nach vorne schauen, bis zur Übergabe des Staffelstabs an Schweden – wie soll die EU sich bis dahin verändert haben, was möchten Sie erreicht haben?
„Ich würde zufrieden sein, wenn man einen Fortschritt sieht im Bereich EU-Erweiterung. Bei den Entscheidungsprozessen könnte man auch ohne Antasten der Verträge Veränderungen erreichen. Außerdem hätte ich gerne einen Fortschritt im Bereich des Green Deals. Das ‚Fit for 55‘-Paket wird wahrscheinlich auch noch für Schweden interessant sein, aber mindestens einen Teil könnten wir schon zu Ende bringen.“
Verbunden
-
Tschechische EU-Ratspräsidentschaft
Berichte, Reportagen und Interviews zum Vorsitz Tschechiens im Rat der Europäischen Union