Jury-Mitglied beim Karlsbader Filmfestival: Großes Privileg und viel Spaß
Das 56. Internationale Filmfestival Karlovy Vary ist mit der Preisverleihung am Samstag zu Ende gegangen. Den Großen Preis im Wettbewerb gewann das kanadisch-iranische Sozialdrama „Summer with Hope“. Jan Ole Gerster war Mitglied der Hauptjury, die über diesen und weitere Preisträger entschieden hat. RPI hat während des Festivals in Karlsbad mit dem deutschen Filmregisseur gesprochen.
Herr Gerster, wir treffen uns nicht zum ersten Mal in Karlsbad. Sie haben hier vor zehn Jahren Ihren Debütfilm vorgestellt, vor drei Jahren hatten Sie hier großen Erfolg mit Ihrem Spielfilm „Lara“. Jetzt sind Sie aber in einer ganz anderen Rolle hier. In welcher?
„Ja, ich bin dieses Jahr Mitglied der Jury für den Hauptwettbewerb. Das ist eine große Ehre und eine große Freude. Karel Och (künstlerischer Leiter des Festivals, Anm. d. Red.) hat mich eingeladen. Er hat mir vor ein paar Monaten eine Nachricht geschrieben, in der stand, er suche immer noch nach Gründen, um mich dieses Jahr nach Karlovy Vary zu holen. Ich habe gesagt, da musst du mir wohl den Preis für mein Lebenswerk geben, weil ich gerade keinen neuen Film fertig habe. Das war natürlich ein Spaß. Aber dann kam die Einladung in die Jury. Ich habe mich darüber sehr gefreut und konnte nicht widerstehen, weil mir Karlovy Vary sehr am Herzen liegt.“
„Ich habe mich über die Einladung in die Jury sehr gefreut und konnte nicht widerstehen, weil mir Karlovy Vary sehr am Herzen liegt.“
Wie genießen Sie diese Arbeit als Jury-Mitglied? Als wir vor drei Jahren miteinander gesprochen haben, haben Sie gesagt, dass Sie nervös sind und auch mit Ihrem ersten Film nervös waren. Wie fühlen Sie sich nun?
„Es ist natürlich etwas ganz Anderes. Jetzt stelle ich mich nicht vorne auf die Bühne und präsentiere einen Film, sondern sitze irgendwo in der Mitte des Saals und gucke mir viele interessante und aufregende Filme an. Die Rollenverteilung ist eine ganz andere, und deswegen bin ich auch nicht so nervös, wie sonst, wenn ich einen Film vorstelle. In der Jury kann man gar nicht von Arbeit reden. Es ist ein großes Privileg und eine große Freude: Wir gucken Filme und reden darüber. Die Jury-Kollegen sind alle ganz fantastisch und wunderbar, und es macht sehr viel Spaß. Jetzt haben wir zehn von zwölf Filmen geguckt, heute gibt es noch mal zwei, und dann wird morgen darüber diskutiert.“
Wie sieht eigentlich die Arbeit der Jury aus? Schauen Sie sich einen Film einmal oder mehrere Male an? Findet im Anschluss gleich eine Debatte statt? Oder wie ist der Ablauf?
„Wir haben jeden Tag zwei Filme, immer um die gleiche Uhrzeit. Es fängt um 17 Uhr an. Die Filme sind zwischen 90 und 120 Minuten lang, selten auch länger. Dann gibt es eine kleine Pause und dann schauen wir um 20 Uhr den nächsten Film. Wir sehen die Filme tatsächlich nur einmal, immer im Großen Saal. Unten im Hotel Thermal haben wir einen kleinen Raum, wo wir zwischen den Filmen etwas zum Trinken und zum Essen bekommen, wir werden also sehr verwöhnt. Und da kommt es immer auch zum Gespräch über die Filme. Der Austausch war am Anfang noch ein bisschen zurückhaltender, jetzt ist er intensiver – auch im Hinblick auf die Entscheidung, die morgen fallen muss.“
Sie sind der einzige Filmregisseur in der Jury. Ansonsten sind dort vor allem Menschen vertreten, die keine Filmschaffenden sind, also etwa Festivalleiter und Produzenten. Sind die Perspektiven auch unterschiedlich?
„Am Ende suchen wir alle dasselbe, wenn wir einen Film schauen. Wir suchen eine starke Stimme, eine starke Erzählung, eine Erfahrung, die es halt nur im Kino gibt.“
„Nein. Ich glaube, am Ende suchen wir alle dasselbe, wenn wir einen Film schauen. Wir suchen eine starke Stimme, eine starke Erzählung, wir suchen eine Erfahrung, die es halt nur im Kino gibt. Ich glaube, dahingehend haben wir alle den gleichen Anspruch an den Gewinnerfilm. Einige der Leute in der Jury sind auch berufsbedingt viel verwachsen mit dem zeitgenössischen Kino. Ich versuche natürlich auch alles zu gucken, was ich so gucken kann, aber es sind zwei Kollegen in der Jury, die das ganze Jahr über von Festival zu Festival reisen und dementsprechend immer auf dem allerneuesten Stand sind und einfach alles gesehen haben. Das ist sehr beeindruckend. Und Roman Gutek aus Polen ist ein Kino-Aficionado, wie es ihn nur selten gibt. Er hat sein Leben dem Kino gewidmet und ist ein ganz toller und interessanter Jury-Kollege. Genauso wie Molly (Molly Malene Stensgaard, Anm. d. Red.), sie ist die Editorin von Lars von Trier. Es ist also ein großes Privileg, mit all diesen Kollegen über die Filme zu diskutieren.“
Vor dem Festival hat der künstlerische Leiter Karel Och gesagt, er sei gespannt, wie das Angebot an Filmen nach zwei Jahren Pandemie aussehen werde. Er stellte dann fest, es habe doch nicht weniger Filme gegeben, sondern es seien zum Beispiel mehr Low-Budget-Filme entstanden, sowie Filme, an denen weniger Personen beteiligt waren. Sie schauen jetzt Filme, die mitten in der Corona-Pandemie entstanden sind. Ist das zu spüren? Kann man diese Entstehungsumstände erkennen?
„Man erkennt das ab und zu – aber erstaunlich selten. Es gibt schon Filme, die die Tatsache thematisieren, dass wir jetzt wirklich zwei Jahre lang durch eine schlimme Pandemie gegangen sind. Aber es ist nicht das dominierende Thema. Man sieht manchmal tatsächlich, was Sie angesprochen haben, dass sich aus der Not heraus die Bedingungen geändert haben. Da lag die ganze Filmindustrie weltweit brach, und manche Leute haben sich dahingehend geholfen, dass sie Low-Budget-Filme gemacht haben. Das war einfach die Reaktion auf diesen Lockdown, durch den wir alle gegangen sind. Also hier und da spürt man das schon, aber es ist, wie gesagt, nicht das dominierende Thema.“
Von einem dominierenden Thema kann man wahrscheinlich gar nicht sprechen…
„Nein, so richtig nicht.“
Im Wettbewerb sind auch tschechische Filme vertreten. Haben Sie sonst die Möglichkeit oder das Interesse, sich tschechische Filme anzuschauen? Etwa die Gegenwartsfilme, oder auch die älteren?
„Für mich ist das tschechische Kino doch vor allem das Kino der tschechischen Neuen Welle.“
„Die Gegenwartsfilme, da habe ich es tatsächlich ein bisschen schwer. Ich erkundige mich natürlich jedes Mal, wenn ich in Karlovy Vary bin, wer jetzt der neue Regiestar in Tschechien ist, und versuche, dessen Filme auch zu sehen. Aber für mich ist das tschechische Kino doch vor allem das Kino der tschechischen Neuen Welle. Ich versuche hier jedes Jahr eine der Restaurationen zu gucken, es wird immer ein tschechischer Klassiker in restaurierter Version vorgestellt. Das ist einfach Wahnsinn, was es da für einen nationalen Filmschatz gibt. Ich finde es auch ganz beeindruckend, berührend und intelligent, wie das Festival die eigene Geschichte immer mit der internationalen Filmgeschichte verknüpft. Nicht zuletzt deshalb, glaube ich, ist das Festival auch so ein Publikumserfolg. Man hat hier einfach verstanden, wie man die Leute für Kino begeistert, dass es auch mit der eigenen Identität zu tun hat, dass es sich auf andere Nationalitäten übertragen lässt. Das hat den Blick beim Publikum geschärft. Es ist immer wieder berührend und beruhigend, zu sehen, wie die Menschen hier jeden Tag ab neun Uhr morgens vor den Kinos Schlange stehen und sich die Filme sich angucken. Es ist ganz tolles Bild, was sich da jeden Tag aufs Neue zeigt.“
Sie haben im Sommer 2019 hier Ihren Film „Lara“ im Wettbewerb präsentiert und damit drei Preise gewonnen. Einen Spezialpreis der Jury, den Preis der ökumenischen Jury, und Corinna Harfouch erhielt den Preis als beste Hauptdarstellerin. Haben diese Auszeichnungen von Karlovy Vary geholfen, den Film international durchzusetzen?
„Es ist immer wieder berührend und beruhigend, zu sehen, wie die Menschen hier jeden Tag ab neun Uhr morgens vor den Kinos Schlange stehen.“
„Na ja, Karlovy Vary ist doch ein wichtiges Festival und zieht somit die Aufmerksamkeit anderer Festivals auf sich. Zudem haben wir hier gleich am Start gute Kritiken von der internationalen Presse bekommen. Das ist nicht unwichtig, dass ein Film einen guten Start bekommt, dass er gesehen wird, dass er wahrgenommen wird. Und wenn er noch Preise bekommt, dann geht es fast gar nicht besser. So gesehen war das ein sehr guter Startschuss für uns. Bei meinem ersten Film gab es keinen Preis, das war noch eine andere Sektion, aber es war trotzdem auch der Startschuss zu einer ganz fantastischen Reise. Bei ‚Lara‘ war es traumhaft, dass wir gleich diese zwei Preise mitnehmen durften. Es war übrigens schon Corinnas zweiter Preis in Karlovy Vary.“
2012 waren Sie mit Ihrem Debütfilm „Oh, boy“ hier, 2019 mit „Lara“. Wann kommen Sie mit einem neuen Film nach Karlsbad. Kann man sich schon freuen?
„Also der Plan ist, dass wir im Februar, März 2023 drehen. In der Regel schneide ich ein bisschen länger und mag es auch so, Zeit im Schneideraum mit dem Film zu verbringen. Also ich versuche jetzt zu rechnen… Das würde dann 2024 bedeuten. Es sei denn, dass der Film sich fast wie von selber schneidet, und wir schon im Mai soweit sind, dass man ihn dem Karel schicken könnte, dann könnte man sogar schon vom nächsten Jahr reden. Aber dazu müsste alles sehr gut laufen. Sobald der Film geschnitten ist, bekommt Herr Och Post von mir.“
„Sobald mein neuer Film geschnitten ist, bekommt Herr Och Post von mir.“
Und wovon soll der Film erzählen? Das Drehbuch ist ja schon fertig…
„Genau, das Drehbuch ist fertig. Wir sind schon bei der Finanzierung und besetzen den Film gerade. Er handelt von einem Mann, der sich in seinem Leben ein bisschen verloren hat. Es beginnt als klassisches Drama über jemanden, der keinen Bezug mehr zur Welt um sich herum hat. Der Film wechselt dann aber ein bisschen das Genre und wird ein moderner Film Noir, bei dem es auch einige Rätsel zu lösen gilt. Also ein wilder Genre-Mix aus Drama, Film Noir und dunkler Komödie.“