Pro und Contra direkte Präsidentschaftswahl in Tschechien: Alles eine Frage der politischen Kultur?
Am Wochenende steht in Tschechien die Präsidentschaftswahl an. Es ist das dritte Mal, dass das Staatsoberhaupt hierzulande per Direktwahl bestimmt wird. Nach den ersten zehn Jahren dieser Praxis wird in Politik- und Wissenschaftskreisen eine erste Bilanz gezogen: War dies eine gute Entscheidung? Ist die Direktwahl des Präsidenten im hiesigen System weiterhin etwas Fremdartiges? Oder hapert es einfach allgemein an der politischen Kultur in Tschechien?
Den Präsidenten Tschechiens direkt wählen zu lassen, sei der größte politische und systemische Fehler seit 1989 gewesen. Derart drastisch fällt der Politologe Stanislav Balík sein Urteil in einer Stellungnahme vom November 2022. Diese gab er als Mitarbeiter des Forschungsinstituts SYRI heraus. Balík ist zudem Dekan der Fakultät für soziale Studien an der Masaryk-Universität in Brno / Brünn.
Die Direktwahl des Staatspräsidenten, 2013 in Tschechien eingeführt, würde bestehende Gräben in der Gesellschaft nur vertiefen, so Balíks Argument. In einer Diskussionsrunde in den Inlandssendungen des Tschechischen Rundfunks führte er aus, dass das Amt früher eher den politischen Verhältnissen entsprochen habe. Denn zuvor wurde der Präsident noch von den beiden Parlamentskammern gewählt:
„Die tschechische Verfassung wurde geschrieben für ein Land mit einer parlamentarischen Demokratie, in der sich der Präsident wenigstens teilweise auf die politische Mehrheit stützt. In diesem Falle hat er nämlich wenig Grund, sich dem Parlament entgegenzustellen. Als seine Wahl in eine direkte umgewandelt wurde, haben sich aber die Kompetenzen des Präsidenten nicht geändert. Und so wurde in das System ein Element eingeschoben, das dort nichts zu suchen hat und das Anspannungen auslösen kann.“
Dies sieht Jakub Michálek anders. Der Fraktionsvorsitzende der Piratenpartei im tschechischen Abgeordnetenhaus erkennt in dem jetzigen Modell eine Möglichkeit für mehr Teilhabe der Bevölkerung:
„Die Direktwahl ist ein neues Element. Sie entspricht jenem Trend, den es auch in einer ganzen Reihe anderer Staaten gibt – etwa in Österreich oder der Slowakei, um unsere unmittelbaren Nachbarn zu nennen. Die Bürger fordern mehr Partizipation am Geschehen im Staat ein. Politik soll nicht nur die Angelegenheit eines Kabinetts sein, in dem sich ein paar ältere Männer bei einer Zigarre treffen und darüber entscheiden, wer im Land regiert. Die Menschen wollen die Möglichkeit, wenigstens diese Entscheidung in gewisser Weise mitzutreffen.“
Streitbarer Präsident Miloš Zeman
Ausgangspunkt der Diskussion, ob die Direktwahl des tschechischen Staatsoberhauptes eine gute Idee war, ist die nun zu Ende gehende zweite und letzte Amtszeit von Miloš Zeman. Er war aus den bisherigen beiden Abstimmungen der Bevölkerung als Sieger hervorgegangen – und beide Male zeigte sich das Land schon während des Wahlkampfs gespalten. Die Amtsführung Zemans hat daran nichts geändert. Ob durch Blockaden bei der Ernennungen von Ministern und Hochschulrektoren, undurchsichtige außenpolitische Aktivitäten oder tendenziöse Äußerungen gegenüber LGBT-Minderheiten oder Green Deal – Zeman hat eher polarisiert als geeint.
Ein Präsident mit einer anderen Meinung als die Regierung sei zunächst nichts Schlechtes, räumt Politologe Balík ein und verweist auf das Ideal des konstruktiven Streits. Dieser wird in Tschechien jedoch oft durch eskalierende Äußerungen unmöglich gemacht. Für den Piratenpolitiker Michálek ist der Grund dafür aber nicht im Konzept der Direktwahl zu suchen, auch wenn sie dem Präsidenten ein starkes Mandat verschafft. Vielmehr stellt der Abgeordnete die Frage, ob die Wähler immer solchen Kandidaten ihre Stimme geben, die dem Land gut tun – und bringt ein positives Gegenbeispiel:
„Mit Blick in die Slowakei glaube ich, dass die Wähler von Präsidentin Čaputová ganz zufrieden sind. Sie überrollt die dortige Politik nicht durch eine dominante Rolle, obwohl sie direkt gewählt ist. Vielmehr tut sie mit ihrem Auftreten etwas für die politische Kultur des Landes. Und dabei wissen wir, dass die Slowaken mit ihren politischen Repräsentanten und auch mit der Justiz recht schwere Zeiten erleben. Aber Čaputová hat in all dem eine wirklich gute Wirkung. Es liegt also an der politischen Kultur und daran, ob die Gesellschaft diesen Wettbewerb so führen kann, wie er sein sollte – ob sich also auch die Kandidaten so verhalten, dass dies mit den Grundlagen der politischen Kultur übereinstimmt.“
Dazu gehöre unter anderem, so Michálek weiter, dass die Präsidentschaftsanwärter im Wahlkampf keine Versprechen machten, die über die Kompetenz des Staatsoberhauptes hinausgehen.
Hoffnung auf Katharsis
Dem widerspricht aber die Praxis im aktuellen Wahlkampf in Tschechien. Alle acht Kandidaten nehmen – gefragt oder ungefragt – Stellung zu fast allen Politikbereichen, die die Regierung zu bewältigen hat. Dabei geht völlig unter, dass der Präsident hierzulande vor allem repräsentative Aufgaben hat. Genau an diesem Punkt hätte laut Stanislav Balík mit der Einführung der Direktwahl auch eine Ausweitung der Kompetenzen vorgenommen werden müssen. Denn es sei ein Problem, wenn sich die Bevölkerung durch die Wahl eines neuen Präsidenten und seiner Visionen eine Katharsis erhoffe:
„Wenn die Wahlen zu Ende sind, will der neue Präsident sein Programm umsetzen. Darin geht es womöglich um eine Rentenreform, um die Arbeitslosigkeit oder auch um die Strompreise. Aber plötzlich stellt er fest, dass er das gar nicht erfüllen kann, denn dazu hat er keine Befugnis. Er kann aber der Regierung und dem Parlament das Leben schwer machen. Der tschechische Präsident hat nämlich das Recht, an jeder Sitzung des Kabinetts sowie beider Parlamentskammern teilzunehmen. Und ihm muss das Wort erteilt werden, wenn er das wünscht.“
Dies sei bisher zwar von keinem Amtsinhaber ausgereizt worden, ergänzt Balík. Ein solches Szenario stellt der Politologe jedoch als ein reelles Risiko dar. Den Abgeordneten Michálek wiederum reizt diese Vorstellung:
„Mich fasziniert der Gedanke, dass Präsident Zeman regelmäßig an den Parlamentssitzungen teilnehmen würde. Bisher ist er dort nur aufgetreten, um seine eigenen Ansprachen zu halten. Andere Redebeiträge hat er sich dabei nicht angehört, weil er meist gleich wieder gegangen ist. Es wäre sicher gar nicht schlecht, wenn die Akteure mehr miteinander diskutieren würden und der Präsident öfter bei Kabinettstreffen dabei wäre – dies ist aber eben eine Frage der Kultur.“
Die Kompetenzen des Präsidenten müssten darum nicht ausgeweitet, sondern konkretisiert werden, meint Michálek, und hat eine verlässlichere Unterstützung der Regierung im Blick. Im Gegensatz dazu hat sich Miloš Zeman vor allem durch eine Antihaltung zu den parlamentarischen Institutionen des Landes hervorgetan. Politologe Balík umreißt die aktuelle Stellung des Präsidenten wie folgt:
„Der tschechische Präsident ist nur dann stark, wenn er keine signifikanten Gegenspieler hat. So war Miloš Zeman stark, als ihm die schwache Regierung von Bohuslav Sobotka gegenüber stand oder die noch schwächeren beiden Regierungen von Andrej Babiš. Damals hat Zeman mit der Verfassung wirklich gemacht, was er wollte. Als sich ihm aber die relativ eng zusammenhaltende Parlamentsmehrheit der derzeitigen Regierungskoalition entgegenstellte, hat Zeman schnell begriffen, dass einige Dinge nun nicht mehr gehen. Er wollte zwar die Ernennung von Außenminister Lipavský blockieren, setzte sich dann aber nicht durch, weil er es nicht zu einer Kompetenzklage beim Verfassungsgericht kommen lassen wollte.“
Eben diese Möglichkeit zur Klage sei eine verfassungsmäßig eingebaute Bremse für Kompetenzüberschreitungen des Staatsoberhauptes, so Balíks Hinweis. Sie sei aber nur für absolute Ausnahmefälle vorgesehen. Als Inspiration dazu hat dem Politologen zufolge einst das US-amerikanische Modell gedient, welches auch ein Beispiel für eine starke Position des Präsidenten sei. Da dieser gleichzeitig als Regierungschef fungiere, käme es in den USA eben nicht zu solchen Konflikten in der Staatsführung, wie es sie derzeit in Tschechien gebe, erläutert Balík.
Präsidialsystem ist für Tschechien keine Option
Ein Präsidialsystem wünscht sich aber keiner der beiden Diskussionspartner für Tschechien. Politologe Balík wirbt vielmehr für eine Rückkehr zur indirekten Wahl des Staatsoberhauptes:
„Dies muss aber nicht bedeuten, dass der Präsident nur vom Parlament gewählt wird. In Ländern, in denen dies gut funktioniert – wie etwa Deutschland oder Italien –, spielen bei dieser Wahl auch die Regionen eine große Rolle. Das wären in unserem Falle die Kreise. Es könnte also durchaus ein 500 Mitglieder starkes Wahlorgan extra für das Präsidentenamt geben, in dem es neben Abgesandten aus dem Parlament auch solche aus den Kreisvertretungen gibt.“
Damit zeigt sich der Piratenabgeordnete Jakub Michálek nicht einverstanden. Er plädiert für Kontinuität. Nur, weil bei einer Wahl ein bestimmter Kandidat gewonnen oder verloren hat, könne nicht alle paar Jahre wieder eine Revolution veranstaltet werden, so die Warnung des Parlamentariers. Zudem wäre die Wiedereinführung der indirekten Wahl des Präsidenten seiner Ansicht nach zu aufwendig:
„Dies würde letztlich nur dazu führen, dass die Regierungsmehrheit in mühsamer Weise ihre Stimmen zusammenzählen muss. Die Wahl wäre megakompliziert, und es gäbe dabei auch keine klare Zuteilung der Verantwortungen. Auf die jetzige Weise bekommen die Menschen einfach das, was sie wählen.“
Der Urnengang steht in Tschechien am Freitag und Samstag an. Zur Wahl stehen eine Kandidatin und sieben Kandidaten. Die sehr wahrscheinliche Stichwahl findet zwei Wochen später statt, und die Amtsübernahme ist auf den 8. März datiert.