Ohne mich, Genossen – Milan Černochs Auflehnung gegen den Stalinismus

Milan Černoch (Foto: Archiv Post Bellum)

Am 25. Februar 1948 kamen die Kommunisten in der Tschechoslowakei an die Macht. Dies geschah mit relativ großer Zustimmung der Bevölkerung. Viele Tschechen und Slowaken waren nach dem Zweiten Weltkrieg der Ansicht, dass die politische Ordnung der Zwischenkriegszeit gescheitert war und dass eine neue Gesellschaft nach sowjetischem Vorbild aufgebaut werden müsse. Einige Menschen erkannten bald ihren Irrtum, doch ein Weg zurück war auch für den einzelnen nicht mehr möglich. So auch Milan Černoch - er entschied sich sogar, offiziell aus der kommunistischen Partei auszutreten.

Milan Černoch  (Foto: Archiv Post Bellum)
Zu Anfang gleicht das Leben von Milan Černoch dem vieler seiner Altersgenossen. 1930 in Prag geboren, prägt der Zweite Weltkrieg sein Heranreifen. Černoch erinnert sich an das Attentat auf den Stellvertretenden Reichsprotektor Reinhard Heydrich, den nachfolgenden Terror seitens der deutschen Besatzer sowie die Gefechte zu Ende des Krieges. Die Familie muss ihr Haus verlassen – und als sie zurückkommt, ist dieses komplett abgebrannt. So mittellos, wie sie sind, finden die Černochs Zuflucht in der Villa eines fremden Mannes, der ganz uneigennützig helfen will. Trotz der Schwierigkeiten ist die Familie froh, die Kriegsjahre relativ heil überstanden zu haben.

Insgesamt herrscht damals in der Tschechoslowakei eine Aufbruchsstimmung nach der nationalsozialistischen Besatzung des Landes. Zugleich sind radikale linkspolitische Ideen in Mode. Auch bei Milan Černoch ist das so. Mit 17 Jahren tritt er der Kommunistischen Partei bei. Er glaubt, auf diese Weise zum Wiederaufbau seiner Heimat beitragen zu können. Diese Überzeugung hatten damals nicht wenige Menschen, sagt der Mann rückblickend:

Sowjets in Prag 1945  (Foto: Karel Hájek,  CC BY-SA 3.0)
„Die Kommunisten waren geschickt darin, in eigener Sache zu werben. Ihre Argumentation im Sinne von ‚Die Sowjets haben uns befreit, sie sind unsere echten Freunde‘ hatte Wirkung. Nach sechs Jahren Besatzung hatten die meisten Menschen das Gefühl, dass eine neue Ära beginnt, eine andere als die vor dem Krieg. Die Begeisterung für die Russen war auf Schritt und Tritt zu spüren. Ich wusste nichts von der kommunistischen Ideologie – und um mich herum war das wahrscheinlich ebenso. Wir glaubten naiv, dass es die Kommunisten gut meinten. Die Verstaatlichung der Banken und der großen Industriebetriebe hielten zum Beispiel viele Menschen für eine gute Idee.“

Begeisterung für die Sowjets

Februar 1948  (Foto: ČT24)
Im Februar 1948 steht der damals junge Mann voll und ganz hinter der Machtübernahme. Er hält es für richtig, dass die bürgerlichen Minister abdanken und die Kommunisten ihre Posten besetzen. Was er nicht weiß: Mit diesem Schritt beginnt für 41 weitere Jahre die Regierung einer einzigen Partei in der Tschechoslowakei.

Für Milan selbst öffnet sich der Weg zu einer Karriere: 1950 schreibt er sich an der Technischen Hochschule in Prag ein. Als zuverlässiges Parteimitglied leitet er dort unter anderem einen Studienkreis. Er soll parteitreuen aber unbegabten Studenten beim Lernen helfen.

„In meinem Kreis waren mehr als 20 Studenten, davon fünf Absolventen von sogenannten Arbeiterkursen. Es ging darum, die meist unfähigen Parteimitglieder irgendwie auszubilden. Sie sollten möglichst schnell in den öffentlichen Institutionen und verstaatlichten Betrieben die früheren Experten ersetzen, die man rausgeschmissen hatte. Mir wurde zum Beispiel ein politischer Ausbilder zur Seite gestellt, der angeblich Drechsler war. Dann stellte sich aber heraus, dass er nicht einmal ein Messer schleifen konnte. Er war, kurz gesagt, ein Handwerker, der sein Handwerk gar nicht kannte.“

Politischer Schauprozess  (Foto: Tschechisches Fernsehen)
So komisch dies heute klingen mag, die kommunistische Politik ist damals aber nicht zum Lachen. Das Regime entfesselt das, was es als Klassenkampf bezeichnet, in allen Bereichen der Gesellschaft. Unter den Repressionen leiden alle, die der Parteipolitik im Wege stehen: Gewerbetreibende und Bauern genauso wie Gläubige und besonders alle Oppositionellen.

Hausseminare bei Jan Patočka

Bereits 1949 beginnen – in der Regie von sogenannten „Beratern“ aus der Sowjetunion – die politischen Schauprozesse. Die Verurteilten sterben entweder am Galgen, oder sie verschwinden für viele Jahre hinter Gitter. Kaum jemand protestiert. Stattdessen unterschreiben viele Tausend Menschen inszenierte Resolutionen, mit denen gefordert wird, die angeblichen Verräter aufs Schärfste zu verurteilen. Milan Černoch beginnt jedoch, an seinem politischen Engagement zu zweifeln:

Radim Palouš  (Foto: Tschechisches Fernsehen)
„Damals, im Jahre 1950, sah ich deutlich, dass die Entwicklung in die falsche Richtung ging. So etwas hatte ich nicht erwartet. Die ‚Sowjetisierung‘ war so umfassend, dass man Angst hatte, seine Meinung zu sagen. Für mich war der Moment entscheidend, als ich über eine Professorin den Philosophen Radim Palouš kennenlernte. Er war sechs Jahre älter als ich und hat noch vor der kommunistischen Machtübernahme an der Karlsuniversität in Prag studiert. Radim nahm mich mit zu den Hausseminaren des verfolgten Professors Jan Patočka, bei denen über alles Mögliche diskutiert wurde. Für mich war dies eine ganz neue Welt. Ich war es gewohnt, technisch zu denken, und traf mich nur mit ähnlich Gesinnten. Durch Philosophie, Geschichte und andere humanistische Fächer lernte ich, die Lage ohne kommunistische Brille zu betrachten. Radim und ich wurden bald die besten Freunde.“

Radim Palouš war Philosoph und hat sich unter anderem mit dem Werk von Johann Commenius beschäftigt. Später war er einer der Sprecher der Bürgerrechtsbewegung Charta 77, die sich zwar um einen Dialog bemüht hat, aber letztlich vom Regime verfolgt wurde. Nach der politischen Wende von 1989 wurde Radim Palouš für viele Jahre Rektor der Prager Karlsuniversität.

Parteibuch der KPTsch
Doch zurück zu Milan Černoch. Am Ende des ersten Studienjahrs an der Technischen Hochschule reift bei ihm die Entscheidung, die kommunistische Partei zu verlassen. Doch er trifft auf eine fanatisierte Atmosphäre. Noch genau erinnert er sich, was nach seiner Ankündigung des Parteiaustritts geschah:

„Meine Parteivorgesetzten fragten mich, woher ich die Frechheit nähme, das Parteibuch der berühmten KPTsch zurückzugeben. Solche Gespräche verliefen nicht nur unter vier Augen. An der Hochschule waren etwa 200 oder 300 Parteimitglieder. Alle wurden in der Aula zusammengerufen, wo ich meine Entscheidung begründen sollte. Ich habe bis heute nicht vergessen, wie aggressiv die Teilnehmer reagiert haben. Der ganze Saal hat mich angeschrien, dass ich ein Verräter sei. Den Hass konnte ich auch körperlich spüren. Mehrmals musste ich mich solchen öffentlichen Verhören stellen. Bei einem wurde ich nach zwei Stunden ohnmächtig, man musste mich aus dem Zimmer tragen. Die Sitzung wurde an einem anderen Tag weitergeführt.“

Der ganze Saal schrie: „Du bist ein Verräter“

Milan Černoch darf schließlich die Partei nicht freiwillig verlassen, er wird ausgeschlossen. Damit ist auch sein Studium zu Ende. Man sagt ihm, für einen Verräter der Partei sei kein Platz an einer Hochschule. Keiner seiner Kommilitonen oder Professoren tritt für ihn ein. Ihm wird sogar mit Arbeitslager gedroht, dazu kommt es glücklicherweise aber nicht. Letztlich zieht der enttäuschte ehemalige Kommunist nach Ostrava / Ostrau, wo er seinen Militärdienst absolvieren muss.

„Man hörte jeden Tag, wer festgenommen wurde, um wessen Hals sich die Schlinge zusammenzog“.

Nicht wenige weitere Parteimitglieder sind in der stalinistischen Phase von dem Vorgehen der Kader geschockt. Den Parteiaustritt wagt jedoch kaum jemand. Milan Černoch bedauert aber auch heute nicht seine damalige Entscheidung.

„In der Partei zu bleiben, das hätte in meinen Augen bedeutet, der kommunistischen Politik zuzustimmen. Die politischen Prozesse, die Hinrichtungen, die Deportationen und die Schikanen gegen viele Tausend Menschen, das hatte mit meiner ursprünglichen Begeisterung nichts mehr zu tun. Es war, als ob die Zeit der nationalsozialistischen Verfolgung zurückgekehrt wäre: Man hörte jeden Tag, wer festgenommen wurde, um wessen Hals sich die Schlinge zusammenzog. Als Parteimitglied habe ich mich dafür mitverantwortlich gefühlt – und das wollte ich nicht.“

Illustrationsfoto: Pechristener,  CC BY-SA 3.0
Milan Černoch konnte letztlich in den 1960er Jahren ein Fernstudium absolvieren. Er erhielt dann eine Stelle am Forschungsinstitut für Brennstoffe in Prag. Dort arbeitete er sich hoch zu einem der größten Experten hierzulande für die Entschwefelung von Kohlekraftwerken. Aber auch in dieser Funktion bekam er Probleme: In den 1980er Jahren beklagte er öffentlich, der politische Apparat behindere die Maßnahmen zur Entschwefelung. Dabei war auch in der Tschechoslowakei längst bekannt, wie sehr die Menschen unter der verschmutzten Luft litten. Doch dies ist ein Thema für ein weiteres Kapitel aus der tschechischen Geschichte.