Pater Kolář: „Die tschechische Kirche ist immer noch austrokatholisch“

Petr Kolář (Foto: Alžběta Švarcová, Archiv des Tschechischen Rundfunks)

Petr Kolář emigrierte nach der Niederschlagung des „Prager Frühlings“ 1968 aus der Tschechoslowakei. In Wien trat er dem Jesuiten-Orden bei und studierte Theologie an verschieden Universitäten Österreichs und Deutschlands. Viele Jahre lang lebte er in Paris und engagierte sich zugunsten der tschechoslowakischen Dissidenten, er half beispielsweise beim Schmuggel von verbotenen Büchern in seine Heimat. 2007 erhielt Kolář eine hohe französische Staatsauszeichnung: Ritter der Ehrenlegion. In den 1990er Jahren arbeitete er als Redakteur im Tschechischen Rundfunk. Im Folgenden ein Gespräch mit ihm über Glauben und Religiosität in Tschechien.

Petr Kolář  (Foto: Alžběta Švarcová,  Archiv des Tschechischen Rundfunks)
Laut den Statistiken sind die Tschechen nur wenig religiös. Gerade einmal 30 Prozent der Menschen hierzulande glauben an Gott, dies hat vor zwei Jahren eine Umfrage ergeben. Was sind Ihrer Meinung nach die Gründe?

„Die erste Wurzel liegt sehr weit in der Vergangenheit. Die Tschechen gehörten zu den Vorkämpfern der Reformation. Zwischen Anfang des 15. bis zum 17. Jahrhundert ist das Land fast protestantisch geworden. Dann kam das Konzil von Trient, bei dem beschlossen wurde, dass die andersdenkenden Christen Häretiker seien. Von da an wurden die mit dem Papsttum verbundenen Könige gebeten, die Länder wieder katholisch zu machen. Im Süden Europas gab es wenige Probleme, denn die Italiener, Spanier und auch teilweise die Franzosen waren Katholiken, und ihre Herrscher auch. Im Norden war es umgekehrt: Die Bevölkerung war protestantisch und die Könige beziehungsweise Regenten auch. In Böhmen aber haben die Stände im 16. Jahrhundert nach dem Aussterben der Jagellonen-Dynastie einen katholischen Habsburger zum König gewählt. Doch das Land war protestantisch. Und dadurch entstanden massive Probleme. König Ferdinand I. hat ab 1526 das Werk der Rekatholisierung ernst genommen. So gab es zum Beispiel in Prag unter fast 30 Pfarreien nur eine einzige katholische – und das war die Burg. Sonst waren es Protestanten des lutherischen Bekenntnisses, Böhmische Brüder, Utraquisten und so weiter, aber praktisch keine Katholiken. Das Land sollte aber rekatholisiert werden! Zum Teil wurde mit Gewalt vorgegangen, besonders nach dem Dreißigjährigen Krieg. Damals wurde die kühne Behauptung ‚cuius regio, eius religio‘ zur Geltung gebracht. Das hieß: Der König durfte seine Untertanen katholisch machen, wenn sie es nicht waren. Die reicheren Menschen und die Adeligen konnten auswandern und im Voraus ihr Eigentum verkaufen, aber den einfachen Leuten wurde diese Möglichkeit nicht gegeben. Sie waren Untertanen, mussten da bleiben und katholisch werden.“

Tábor  (Foto: Archiv Radio Prag)
Wie ging dann die Entwicklung weiter?

„Im 19. Jahrhundert beziehungsweise bis zum Ersten Weltkrieg hatte man den Eindruck gehabt, dass das Land tatsächlich katholisch geworden sei. Es war aber, würde ich sagen, ein politischer Katholizismus. Wenn man einen guten Posten in der Monarchie haben wollte, musste man katholisch sein. Nach dem Ersten Weltkrieg und der Entstehung der selbständigen Tschechoslowakei hat sich die Lage natürlich schnell geändert. Man schätzt, dass an der Schwelle zum Zweiten Weltkrieg der Prozentsatz der Katholiken bei 50 Prozent lag. Zudem waren die katholischen Bischöfe so austrokatholisch, dass sie auf die Entstehung der Tschechoslowakei fast nicht reagierten. Staatspräsident Masaryk erklärte damals offiziell: ‚Tábor ist unser Programm.‘ Tábor war die Stadt, die die Hussiten gegründet hatten. Die Aussage war also offen gegen die Katholiken gerichtet – und hat Beifall geerntet. Nach dem Zweiten Weltkrieg kamen die Kommunisten, und sie haben nur noch geerntet, was die vorigen Generationen gesät hatten. Manchmal denkt man im Westen, die Tschechen seien säkularisiert. Das stimmt aber nicht. Säkularisiert sind jene Völker, die die katholische oder eine andere Religion aufgrund der gesellschaftlichen Lage ablehnen. Man will über sich selbst herrschen und glaubt an keine Macht darüber. Hierzulande aber haben die Menschen gesagt: ‚Die Religion ist mir Wurst.‘ Das war ähnlich wie nach dem Zweiten Weltkrieg in Frankreich. Damals erschien dort ein sehr bekanntes Buch mit dem Titel: ‚Gott - Nein, danke‘. Bei uns ist es aber seit der Reformation bis heute immer stärker geworden. Dieses Hin und Her zwischen Katholizismus und Protestantismus hat die Menschen zur Überzeugung gebracht, dass alles wertlos sei.“

Foto: Basher Eyre,  Wikimedia CC BY-SA 2.0
Viele Soziologen und Philosophen lehnen es ab, die Tschechen als Atheisten zu bezeichnen. Sie sprechen von eine „scheuen“ Religiosität, die hierzulande verbreitet sei. Lässt sich diese Erscheinung näher beschreiben?

„Wenn die Philosophen von Atheisten reden, dann denken sie an Menschen, die tatsächlich atheistisch sind, das heißt, nicht an Gott glauben. Das ist ihre begründete Überzeugung, das Ergebnis einer langen Überlegung. Aber solche Atheisten sind überall nur selten und noch seltener bei uns. Bei uns ist vielen Menschen die Religion Wurst, sie sind halt müde von dem Ganzen. Das heißt aber nicht, dass sie nichts für die spirituelle Dimension des menschlichen Lebens übrig haben. Sie sind ‚irgendwie‘ religiös und glauben manchmal an die unmöglichsten Sachen. Ich hab es selbst mehrmals erlebt. Beispielsweise war ich mit einem Mann in den Bergen außerhalb der Zivilisation, und eine schwarze Katze lief über den Weg. Wir mussten etwa 20 Minuten warten, bis ein anderes Tier die Spur der Katze überquerte, weil seiner Meinung nach sonst ein Unglück passiert wäre. Solche Menschen halte ich nicht für Atheisten. Dieser Mann war aggressiv gegenüber der Religion, zugleich glaubte er aber an die Schwarze Katze.“

Foto: Eva Berrová,  CC BY-SA 3.0
Und was die scheue Religiosität betrifft…

„Diese lässt sich bei solchen Menschen beobachten, die wirklich über die Sache nachdenken. Das sind meist Künstler und Philosophen, die für die geistliche Dimension des Lebens offen sind. Václav Havel solch ein Mensch. Der bekannte tschechische Tempeltonpreisträger Tomáš Halík nennt solche Menschen ‚Něcisten‘. Něco heißt ‚etwas‘, sie glauben einfach an ‚Etwas‘. Für die Christen ist das natürlich enttäuschend, aber es ist gar nicht so dumm. Das sind echte Agnostiker. Sie haben begriffen, dass man Gott oder das Übernatürliche nicht konkret erfassen kann. Man kann es nur herleiten, mehr oder weniger treffend begründet, aber eine Sicherheit kann man nicht haben. Solche Denker kommen zum Schluss, dass man es zwar nicht begreifen kann, aber dass dies die eigene Entscheidung oder Feststellung ist. Man kann also entweder sagen: Was ich nicht begreifen kann, das ist mir eigentlich egal. Oder kann man sagen: Es ist zwar nicht zu begreifen, aber trotzdem ist mir diese Dimension wichtig, und ich kann ohne sie nicht leben. Es gibt doch viele Sachen, die nicht sichtbar sind, aber trotzdem sind sie wichtig. Die Nichtchristen sind sehr oft von dieser zweiten Sorte, also Agnostiker. Für sie ist die geistliche Dimension nicht zu sehen, aber sie verschmähen sie auch nicht.“

František Tomášek  (Foto: Martin Davídek,  Wikimedia CC BY-SA 3.0)
Noch einmal zurück zur katholischen Kirche: Sie war nach der Wende 1989 sehr populär, sie stand auf der „richtigen“ Seite, also gegen das kommunistische Regime. War das eine historische Ausnahme?

„Zunächst muss man sagen: Die Kirche als solches stand nicht an der Seite der Opposition. Die vier damals offiziellen Bischöfe haben bis zum letzten Augenblick nichts gegen den Kommunismus gesagt. Es erklang nur ein einziger Satz aus dem Mund von Bischof Tomášek, und zwar bei einer Predigt im Prager Veitsdom im November 1989. Der Satz lautete: ‚In dieser wichtigen Stunde in der Geschichte unseres Volkes stehen ich und die katholische Kirche an der Seite des Volkes.‘ Es gab Priester, die in den 1980er Jahren mit den Dissidenten zusammengearbeitet haben. Es waren aber nur wenige, und die kirchlichen Obrigkeiten waren dagegen.“

Aber das religiöse Leben war unterdrückt, viele Priester waren im Gefängnis …

Foto: World of Oddy,  CC BY-NC-SA 2.0
„Das ist aber eine andere Sache. Die Unterdrückten werden immer bedauert. Die Kirche war natürlich der einzige ideologische Gegner des kommunistischen Regimes und genoss dafür großes Prestige. Das betraf aber nur ein paar Dissidenten. Ich war nach der Wende im öffentlich-rechtlichen Tschechoslowakischen Rundfunk angestellt und traf sehr schnell dort einen Mitarbeiter, der mir nach einem Streit über Politik sagte: ‚Ich sehe, Sie sind der Gleiche geblieben. Sie wollen nur Geld und Macht.‘ Er meinte die Katholiken. Dann kam noch dazu die Schererei mit der Restitution des kirchlichen Eigentums. Die Katholiken waren zunächst sehr passiv, dann haben sie sich aber mehr und mehr interessiert und in die Politik eingemischt. Die Sache mit der Restitution ist immer noch nicht beendet. Man sieht mittlerweile, dass das Gesetz, das letztes Jahr verabschiedet wurde, gar nicht so gerecht ist.“

Die Kirche argumentiert, dass es doch darum gehe, die historische Ungerechtigkeit wieder gutzumachen. Drei Viertel der Tschechen sind aber dagegen. Warum?

Illustrationsfoto: Christopher Bulle,  CC BY 2.0
„Das ist eine sehr traurige Sache. Da wird mit zweierlei Maß gemessen. Man hat nichts dagegen gehabt, dass andere entschädigt wurden. Wenn es aber um die Kirche geht, dann wird argumentiert, das entsprechende Eigentum gehöre eigentlich nicht der Kirche. Denn die Menschen, die dieses Eigentum einst gestiftet haben, wollten es für soziale und schulische Zwecke nutzen. Dieses Betätigungsfeld hat die Kirche aber aufgeben müssen und kann es nun nicht wieder im selben Stil aufnehmen. Deswegen sagen die Menschen, dass die Kirche das Geld dann eigentlich stehle. Ich war von Anfang an dagegen, dass die Kirche über die Rückgabe des Eigentums mit dem Staat hadert. Die Kirche hätte meiner Meinung nach fragen sollen: ‚Wollt Ihr ein Rechtsstaat sein? Wenn ja, dann warten wir, was Ihr daraus macht.‘ Leider hat sich die Kirche eingemischt, und jetzt befinden wir uns in einer Situation, die meiner Meinung nach noch schlimmer ist als nach dem Zweiten Weltkrieg.“

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Ist die katholische Kirche in der Lage, angemessen mit der tschechischen Öffentlichkeit zu kommunizieren?

„Sie ist nicht geschickt und noch dazu immer noch von der Wende von 1918 gebeutelt. Sie ist sehr austrokatholisch. Sie bemüht sich, immer gut mit dem Staat auszukommen, und hat nicht den Mut, von Gleich zu Gleich mit der Gesellschaft zu reden. Dieser austrokatholische Geist hat sich unter anderem in der Medienarbeit der Kirche gezeigt. Nach der Wende von 1989 hatte sie wieder die Möglichkeit, in den öffentlich-rechtlichen Medien ihre eigenen Redaktionen zu haben. Aber sie ist einen anderen Weg gegangen und hat eine eigene Rundfunk- und Fernsehstation gegründet. Finanziell ist das eine große Bürde, und außerdem erreichen wir dadurch nicht auch die nicht-katholische Bevölkerung. In den öffentlich-rechtlichen Medien dagegen, in denen ich viele Jahre lang gearbeitet habe, war dies möglich. Das ist für mich ein Zeichen, dass sich Kirche eingeigelt hat. Der neue Papst sagt, dass sie selbstbezogen sei und dass sie herauskommen solle. Aber wir tun nichts dafür - das ist fürchterlich.“

Foto: Archiv Radio Prag
Zu Weihnachten sind aber die Kirchen voller Menschen, es kommen auch jene, die sich selbst als Ungläubige bezeichnen. Was lässt sich daraus lesen?

„Die Kirchen sind nur dann voll, wenn dort Krippen stehen. Das interessiert die Kinder, und die Erwachsenen kommen mit. Es gibt Leute, die sich für Weihnachten interessieren und das Fest auch feiern, obwohl sie an nichts glauben. In früheren Zeiten, als die Menschen noch mehr geglaubt haben, war das ein kulturelles Christentum. Heute ist es nur noch Folklore, nichts anderes. Ich selbst mag dies auch sehr, nachdem ich im Ausland nicht das typisch böhmische Weihnachten erleben konnte. Bei uns und in anderen mitteleuropäischen Staaten besteht eine spezielle Barocktradition. Ich lehne das nicht ab, aber das ist kein Christentum. Das Christentum bedeutet, aktiv zu sein, nicht nur, sich mit schöner Musik unterhalten zu lassen. Das ist mir zu wenig.“