„Politisierung war vorprogrammiert“ - Historiker Kopeček über Totalitarismus-Institut ÚSTR
Der Streit um das Institut für das Studium totalitärer Regime (ÚSTR), das tschechische Pendant zur deutschen Stasi-Unterlagen-Behörde, hält an. Vor drei Wochen war Daniel Herman abberufen worden, er war der fünfte Direktor des Instituts in fünf Jahren. Seitdem vergeht kaum ein Tag, an dem das ÚSTR nicht für Schlagzeilen sorgt. In unserem Politgespräch erläutert der Historiker Michal Kopeček vom Institut für Zeitgeschichte der Akademie der Wissenschaften (Ústav pro soudobé dějiny AVČR), was die Ursachen des Streits sind, welche Rolle das ÚSTR für die Aufarbeitung der kommunistischen Vergangenheit spielt und wo Tschechien beim Vergangenheitsdiskurs steht - im Vergleich zu anderen postkommunistischen Ländern.
„Erst einmal muss ich sagen, dass ich überhaupt nicht überrascht bin. In gewissem Sinne waren diese politischen Konflikte schon beim Entstehen des Instituts vorprogrammiert und wurden von den Kritikern auch vorhergesehen. Der tschechische Senat ernennt sowohl den Verwaltungsrat als auch den wissenschaftlichen Beirat des Instituts, das heißt das ÚSTR ist vom Senat abhängig. Allein dies bildet die Voraussetzung für eine politische Abhängigkeit. Dazu muss man noch ergänzen, dass das Institut 2007 unter der rechtsgerichteten Regierungskoalition von Mirek Topolánek gegen den Willen nicht nur der Kommunisten, sondern auch der Sozialdemokraten – also der gesamten tschechischen Linken – durchgesetzt wurde. Und wir Historiker, Akademiker, Intellektuelle und viele andere haben schon damals gesagt, dass man so keine Geschichtspolitik machen kann, diese muss vom gesamten politischen Spektrum getragen werden.“
Wie hätte man es anders machen können?„Man hätte mindestens mit der sozialdemokratischen Seite zusammenarbeiten müssen, weil die tschechischen Sozialdemokraten – im Gegensatz zu ihren Schwesterparteien etwa in Polen, Ungarn oder der Slowakei - eine starke antikommunistische Agenda haben. Die Tatsache, dass die Rechte das Institut wirklich gegen den Willen der Sozialdemokraten als Instrument des politischen Kampfes durchgesetzt hat, war ein Geburtsfehler.“
Über den Auftrag des Instituts scheint es unterschiedliche Meinungen zu geben: Forschung? Digitalisierung von Akten? Politische Bildung? Was sollte Ihrer Meinung nach die Hauptaufgabe des ÚSTR sein?
„Dass dieser Eindruck herrscht, ist kein Wunder, weil das ÚSTR schon von Anfang an eine Ansammlung von sehr verschiedenen, auch einander gegensätzlichen Funktionen und Aufgaben hatte. Wir haben zudem von Anfang an kritisiert, dass das ÚSTR – wie auch die anderen Institute des nationalen Gedenkens in Ostmitteleuropa, zum Beispiel in Polen oder der Slowakei – vor allem politisch motivierte Projekte zur Speicherung bestimmter kollektiver Erinnerung sind. Und durch diese Erinnerung sollte eine Grundlage für engagierte und historisch informierte Bürger geschaffen werden. Das Konzept der politischen Bildung war also von Anfang an ein sehr wichtiger Fokus der Aktivitäten. Gleichzeitig sind diese Institute aber auch Institutionen zur Archivierung und Dokumentation im Bereich der Unterdrückungs- und Machtmechanismen totalitärer Regime. Und sie verwalten die Archive der Staatssicherheit. Zudem hatten diese Institutionen noch starke akademische Ambitionen. Diese Funktionen stehen im Widerspruch zueinander: Auf der einen Seite die Förderung kritischer historischer Forschung und auf der anderen die Förderung einer bestimmten ausgeprägten historischen Erinnerung – das geht wirklich nicht zusammen.“Kritiker bemängeln den bisherigen wissenschaftlichen Output des ÚSTR? Vilém Prečan, langjähriger Direktor des Instituts für Zeitgeschichte, hat jetzt sogar für die Auflösung des ÚSTR plädiert. Welche Aspekte der Ära 1948 bis 1989 sind noch zu wenig erforscht?„Das ÚSTR verstand als seine Hauptaufgaben in den letzten Jahren die Erinnerungspolitik und politische Bildung. Das hat natürlich die wissenschaftliche Produktion in den Hintergrund gedrängt. Es entstanden zwar auch einige wissenschaftliche Monographien, aber zum Beispiel eine synthetische Monographie der tschechoslowakischen Staatssicherheit - wie sie bereits von der deutschen, aber auch der polnischen und ungarischen Historiographie herausgegeben wurde – gibt es in Tschechien und der Slowakei noch nicht. Noch schlimmer ist aber, und das ist wirklich ein großes Problem: Das ÚSTR, das im Besitz aller nötigen Archivalien zu diesem Thema ist, hat ein solches Projekt bislang noch nicht einmal geplant.“
Wie wichtig ist das ÚSTR überhaupt für die Aufarbeitung der Vergangenheit in Tschechien?„Was die wissenschaftliche Aufarbeitung betrifft, war die Rolle und Leistung des ÚSTR bislang eher bescheiden. Was aber die politische Debatte und Politisierung der Zeitgeschichte – der Geschichts- und Erinnerungspolitik– betrifft, ist die Rolle dieses Instituts unübersehbar und in den letzten Jahren sogar zentral, würde ich sagen. Das war natürlich auch der Grund, warum viele Historiker von Anfang an dem Institut sehr kritisch gegenübergestanden sind. Aber gleichzeitig hat sich gezeigt, dass das ÚSTR gar nicht imstande ist, den öffentlichen historischen Diskurs und noch weniger den fachlichen Diskurs unter den Historikern zu homogenisieren. Es scheint mir umgekehrt, dass die öffentliche Tätigkeit des ÚSTR eher zu einer größeren Pluralisierung und Differenzierung im Geschichtsdiskurs geführt hat.“
Wo stehen die Tschechen heute in punkto Vergangenheitsbewältigung – verglichen mit Deutschland und anderen postkommunistischen Ländern?„Ich denke, die Aufarbeitung ist nie abgeschlossen. Aber ihre politische und öffentliche Rolle entwickelt sich mit der Zeit. Das zeigt sehr schön das deutsche Beispiel der Nachkriegsaufarbeitung – sowohl der Nazi-Vergangenheit als auch der SED-Diktatur. Und so sehe ich es auch in Tschechien und im übrigen postkommunistischen Europa. Derzeit ist eine spürbare Verschiebung des Akzents sehr interessant und wirklich wichtig, und das nicht nur in Tschechien, sondern auch in den anderen postsozialistischen Staaten, zum Beispiel Polen, der Slowakei oder Bulgarien. Während für mich und meine Generation die Aufarbeitung der kommunistischen Vergangenheit die Hauptfrage war – auch für die politische und nationale Identitätsbildung -, ist es für die jetzige jüngere Generation, besonders für die kritische links-orientierte, eher die postkommunistische Vergangenheit. Es geht um etwas, das sie als Einführung einer neoliberalen Hegemonie sehen und auch kritisieren. In diesem Sinne geht es nicht mehr nur um eine Bewältigung der kommunistischen Vergangenheit, sondern es beginnt jetzt eine Bewältigung auch der postkommunistischen Vergangenheit.“
Als das ÚSTR gegründet wurde, war Tschechien eigentlich sehr weit im Vergleich zu den anderen postkommunistischen Ländern, was die Öffnung der Stasi-Akten angeht. Wie sieht es heute aus?„Eine Sache ist die Öffnung der Akten der Staatssicherheit. Die geschah in Tschechien schon 2004, also vor der Gründung des ÚSTR. Seitdem ist Tschechien eines der liberalsten Länder, wenn nicht das liberalste, was die Möglichkeit betrifft, diese Akten einzusehen. Eine andere Sache ist, dass Tschechien institutionell sehr weit hinter den anderen Ländern stand. In Polen gab es schon seit 1998 das Institut für das nationale Gedenken. In der Slowakei entstand Anfang 2000 ein ähnliches Institut. Und viele Politiker haben damals argumentiert: Warum haben die Polen und die Slowaken das schon alles gemacht – wir brauchen auch ein solches Institut. Dieses Argument war damals sehr wichtig in der politischen Diskussion.“
Es gibt Befürchtungen, dass das ÚSTR aufgelöst wird, wenn die Sozialdemokraten an die Regierung kommen. Was würde das bedeuten für den Vergangenheitsdiskurs in Tschechien?„Für mich als Historiker wäre eine ideale Lösung: das ÚSTR aufzulösen, aber das Archiv und Dokumentationszentrum mit einem kleinen wissenschaftlichen Bereich zu erhalten und finanziell stärker zu fördern. Und zusätzlich sollte man zwei kleinere, aber klar ausgerichtete Institutionen zu schaffen - einmal so etwas wie eine tschechische Zentrale für politische Bildung, nach deutschem Beispiel. Und zum anderen eine Stiftung, ähnlich wie die Stiftung Aufarbeitung in Deutschland. Denn wir haben in Tschechien kaum Stiftungen und wenige Möglichkeiten, Gelder zu beantragen außer staatlichen Geldern. So hätten viele Forschergruppen im Land die Möglichkeit, echte Forschung zu betreiben. Eine solche Teilung des ÚSTR in drei verschiedene Institutionen scheint mir die beste Lösung zu sein. Aber leider sehe ich für diese Möglichkeit im Moment keinen politischen Willen.“