Prag, August 1968: Durch Zufall in den Strudel der Geschichte
In der nun folgenden Ausgabe der Sendereihe "Heute am Mikrophon" präsentieren wir Ihnen Erinnerungen an den Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen und an die Niederschlagung des Prager Frühlings vor genau 37 Jahren - und zwar Erinnerungen eines Deutschen. Heinz Oppat war damals als junger Tourist in Prag, und er hat die Eindrücke aus diesen Tagen nie vergessen. Gerald Schubert hat mit ihm gesprochen:
"Die erste Nacht, vom 19. zum 20. August, war ruhig. In der Nacht zum 21. gab es dann aber Flugzeuglärm und - wie ich dachte - Lastwagengeräusche. Ich war ziemlich sauer auf die Bekannte, und dachte: Wo hat die mich denn einquartiert? Ich wollte nur noch diese eine Nacht bleiben und mir dann ein ruhiges Hotel suchen."
Um acht Uhr früh hämmert ein Engländer an Heinz Oppats Tür: "The Russians are here!" ruft er aufgeregt. "Die Russen sind hier!" Doch Herr Oppat glaubt ihm nicht. In der Nähe, das wusste er, befand sich nämlich eine Kaserne. Und so schien es ihm doch irgendwie wahrscheinlicher, dass dieser Engländer tschechische Soldaten eben nicht von russischen unterscheiden konnte. Später verlässt Herr Oppat das Heim und geht zur Straßenbahnstation. Er will hinunterfahren auf die Kleinseite, wo seine Bekannte Jana wohnt.
"Auf der anderen Straßenseite war ein Lebensmittelladen, und davor bildete sich schon eine lange Schlange. Aber aus Berichten von Ostberlin wusste ich ja, dass die Lebensmittelsituation in den damaligen sozialistischen Staaten nicht so gut war. Daher dachte ich einfach, die Leute stellen sich eben an und warten auf Bananen oder Orangen. Später kam ich an der Station an und wartete auf die Straßenbahn. Nur, die kam und kam nicht, und da war mir irgendwie merkwürdig zumute. Als nach zwanzig Minuten immer noch keine Straßenbahn da war, ging ich einfach zu Fuß zu meiner Bekannten. Sie öffnete mir die Tür und weinte bitterlich."Im Hintergrund läuft der Fernseher. Aus den bruchstückhaften Bildern kann Herr Oppat sich immer noch keinen Reim machen, aber Jana erzählt ihm schließlich, was vorgefallen ist. Der Engländer hatte Recht gehabt. Die Russen waren da.
"Am Nachmittag bin ich dann mit meiner Bekannten und ihrer Schwester, die bei ihr wohnte, zum Wenzelsplatz gegangen. Da waren Panzer und ein riesiger Menschenauflauf. Besonders beeindruckt haben mich tschechische Veteranen, in alten Uniformen und mit Orden behängt, die schimpften und den russischen Soldaten in ihren gepanzerten Fahrzeugen drohten. Wahrscheinlich waren das auch schon Widerstandskämpfer gegen die deutsche Besatzung gewesen. Plötzlich kamen aus einer Seitenstraße mindestens fünf- bis zehntausend Menschen. Vorneweg trugen junge Leute eine blutverschmierte tschechische Fahne und einen blutverschmierten Motorradhelm, und sie sangen dabei die Internationale und die tschechische Nationalhymne. Die Panzertürme drehten sich dauernd nervös hin und her, die Soldaten standen an den Maschinenpistolen. Ich war da mit diesen beiden jungen Damen mitten in der Menge, und es war mir natürlich nicht gerade wohl zumute. Ich habe darauf geachtet, in der Nähe von Hauseingängen zu bleiben, damit wir uns notfalls in Sicherheit bringen konnten. Die Mädchen weinten, und ich wusste nicht genau, was los war. Später hörte ich, dass es da wohl schon um eines der ersten Opfer ging, einen Motorradfahrer, der von russischen Panzern überrollt oder vielleicht auch erschossen wurde."
In den Wirren der Ereignisse schien es danach für den westdeutschen Ausländer nicht ratsam zu sein, weiterhin im Studentenheim zu wohnen. Jana und ihre Schwester quartierten Heinz Oppat bei sich zu Hause auf der Kleinseite ein.
"Ich bin zehn Tage dort geblieben. Die eine Bekannte war sehr engagiert. Sie hat mit mir zusammen antirussische Plakate gemalt. 'Russe geh nach Hause!' oder ein Hakenkreuz, ein Ist-Gleich-Zeichen und Hammer und Sichel. Das haben wir an Geschäfte geklebt oder an Bäume geheftet, was sicher auch nicht ganz ungefährlich war."
Während dieser Zeit erkundigt sich Heinz Oppat jeden Tag nach Möglichkeiten, wieder nach Hause zu kommen. Der Zug aus Prag über die DDR nach Westberlin verkehrte nicht mehr, Ersatz gab es zunächst keinen. Erst nach zehn Tagen fährt ein Zug nach Westdeutschland, und zwar nach Nürnberg. Von Nürnberg aus ergattert Oppat noch am selben Abend einen Platz im letzten Flugzeug nach Westberlin. Rückblickend betrachtet: Hatte er Angst während all dieser Tage, als er auf seine Ausreise wartete?
"Als ich die MG-Schüsse hörte, da war mir natürlich mulmig. Als Westberliner konnte ich ja auch nicht zur Bundeswehr gehen, also hatte ich mich mit militärischen Gerätschaften nie besonders befasst. Das war alles fremd für mich. Aber nach einigen Tagen haben mir die Mädchen erklärt, dass die Situation jetzt ruhig ist, und dass die Bevölkerung nur sehen muss, dass die Versorgung stimmt. Und da hatte ich dann eigentlich keine Bedenken mehr."
Bedenken, die ihn davon abhielten wiederzukommen, hatte er auch nachher keine.
"Bis 1972 bin ich fast jedes Jahr etwa zweimal nach Prag gekommen. Einmal habe ich meine Mutter mitgenommen, einmal war ich mit der Gewerkschaft da, und auch alleine, mit dem Auto, bin ich öfter da gewesen. Aber das junge Mädchen habe ich nur noch einmal kurz gesehen. Ich glaube, sie ist dann verzogen. Jedenfalls haben wir uns aus den Augen verloren."
Nach 1972 hat Oppat auch Prag aus den Augen verloren. Er war seither nie wieder hier. Auch nach der Wende 1989 nicht. Aber irgendwann, sagt er, will er auf jeden Fall wiederkommen.
Abschließend noch eine Frage: Wie überraschend war letztlich der Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen für den jungen Gast aus Deutschland, der als Westberliner mit der gespannten Atmosphäre des Kalten Krieges und dem täglichen Leben mitten im Ringen um Einflusssphären längst vertraut war?
"Sagen wir mal so: Ich habe den Prager Frühling zu Ostern 1968 kennen gelernt und war begeistert. Auch Herrn Dubcek und seine Ideen fand ich ganz toll. Aber schon damals hatte ich ein bisschen Angst, dass es zu schnell ginge. Auch gegenüber der DDR-Führung hatte ich Misstrauen. Ich dachte, die lassen sich das nicht gefallen, weil das ja auch auf die DDR-Bevölkerung und die anderen Ostblockländer überschwappen könnte. Aber dass sie gleich mit Militär ankommen, das hätte ich nicht vermutet. Davon war ich gänzlich überrascht."