Scheinbar geringe Armutsquote in Tschechien: Wissenschaftler kritisieren EU-Statistiken
Laut offiziellen EU-Statistiken sind die Menschen in Tschechien am wenigsten von Einkommensarmut bedroht. Wissenschaftlerinnen der hiesigen Akademie der Wissenschaften halten diese vergleichenden Analysen jedoch für irreführend. Die Armutsgrenze unterscheidet sich nämlich von Land zu Land, und dies mitunter deutlich.
13.640 Kronen netto monatlich, also knapp 550 Euro – das war 2020 in Tschechien die Armutsgrenze. In Deutschland lag sie mit 1173 Euro mehr als doppelt so hoch. Dies belegt, dass die Armutsquote ein relativer Wert ist, der in jedem Land separat erhoben wird. Innerhalb der Europäischen Union gilt dafür der Richtwert von 60 Prozent des Medianeinkommens des jeweiligen Staates.
Angesichts der aktuellen Zahlen des EU-Statistikamtes Eurostat haben sich Wissenschaftlerinnen des Soziologischen Instituts der tschechischen Akademie der Wissenschaften (AdW) die Frage gestellt, wie berechtigt Tschechiens Spitzenposition hinsichtlich einer geringen Einkommensarmut eigentlich ist. Das wesentlich höher angelegte Limit in Deutschland bedeutet, dass dort fast 20 Prozent der Menschen unter der Armutsgrenze leben. Im verhältnismäßig ärmeren Tschechien bewegt sich diese Quote langfristig bei etwa zehn Prozent. Soziologin Martina Mysíková:
„Es ist zwar keine wissenschaftliche Methode – aber wenn wir die tschechische Armutsgrenze auf Deutschland übertragen, fallen schon nicht mehr so viele Menschen darunter. Weil die Einkommen in Deutschland einfach viel höher liegen.“
Dieses Beispiel zeigt, wie problematisch es ist, die Armutsquote verschiedener Länder zu vergleichen. Das gute Abschneiden Tschechiens im EU-Vergleich sollte daher mit großer Vorsicht genossen werden, empfiehlt Kamila Fialová aus der gleichen Forschungsgruppe:
„Eine niedrige Armutsquote bedeutet lediglich, dass es im Land nur einem kleinen Teil der Bevölkerung im Vergleich zum nationalen Standard nicht so gut geht. Es wird aber nicht gesagt, wie der nationale Standard aussieht. Die Löhne in Tschechien reichen bei Weitem nicht an jene in Westeuropa heran, und das Einkommensniveau ist insgesamt deutlich niedriger.“
Der internationale Vergleich, der jährlich von Eurostat veröffentlicht wird, basiert auf drei Kriterien. Neben der Einkommensarmut sind dies die Arbeitsintensität und der Grad an materieller Entbehrung. Dieser besagt, inwiefern Menschen in der Lage sind, ihre Grundbedürfnisse zu decken – angefangen bei der Wohnsituation und der Haushaltseinrichtung über die Heizkosten bis hin zu einem Urlaub jährlich. Rein statistisch gesehen, stehe Tschechien gut da, räumt Martina Mysíková ein:
„In Tschechien ist die Quote der Einkommensarmut EU-weit am niedrigsten. Allerdings ist auch die materielle Entbehrung sehr gering. Dank der niedrigen Arbeitslosenquote in den vergangenen Jahren ist zudem der Wert der Arbeitsintensität bei uns nicht sehr hoch.“
Die Soziologin sieht ein Problem darin, dass der Einkommenshöhe in den EU-Statistiken zu viel Bedeutung beigemessen wird. Zudem werden in gewisser Weise Fragen der Besitzverhältnisse sowie der nötigen Ausgaben außen vor gelassen. Dies könnte teilweise ausgeglichen werden, indem auch die subjektive Armut in die Statistiken einbezogen würde, so Mysíková:
„In den gleichen Umfragen, die den offiziellen EU-Statistiken zugrunde liegen, fragen wir die Haushalte auch nach ihren subjektiven Einschätzungen. Dabei geht es darum, wie sie mit ihren Monatseinnahmen auskommen oder welche Mindestsumme sie dafür als notwendig betrachten.“
Würden auch diese Angaben in die Eurostat-Analysen einfließen, dann käme ein deutlich anderes Ergebnis bezüglich der Armutsquote heraus:
„Nimmt man den Bevölkerungsteil, der mit seinen Finanzen nur mit Schwierigkeiten oder mit großen Schwierigkeiten auskommt, verliert Tschechien seine positive Spitzenstellung in Europa. Denn es sind 16,2 Prozent der Menschen hierzulande. Das ist an sich keine sehr hohe Zahl. Aber mit ihr fallen wir auf den zehnten Platz zurück.“
Damit bewegt sich Tschechien also eher im EU-Mittelfeld. Und dies sei, so die Forscherinnen aus Prag, schon wesentlich realistischer. Darum sollte, so ihre Forderung, in internationalen Statistiken immer auch der jeweilige Lebensstandard eines Landes stärker mit einbezogen werden.