Sonderweg der Visegrád-Vier: Wissenschaftler streiten über Definition von „Mitteleuropa“

Mitteleuropa (Autor: Scooter20, Creative Commons 3.0)

Wenn man als Deutscher die Tschechische Republik nach Osteuropa verortet, begibt man sich schnell auf sehr dünnes Eis. Die Tschechen legen sehr viel Wert drauf, in der Mitte, im Zentrum, im Herzen Europas zu leben, nicht jedoch im Osten. Beim Mitteleuropasymposium im Österreichischen Kulturforum vergangene Woche ging es um diesen etwas vagen Begriff „Mitteleuropa“. Unter politischen, historischen und gesellschaftlichen Fragestellungen wurde der Begriff unter die Lupe genommen. Es diskutierten unter anderem der Soziologe Miloš Havelka, der Politiker Petr Pithart, der Kulturwissenschaftler Stefan Troebst und der Historiker Jan Křen.

Mitteleuropa  (Autor: Scooter20,  Creative Commons 3.0)
„Mitteleuropa als exklusionistisches Konzept“ – so betitelte der deutsche Historiker und Kulturwissenschaftlicher Troebst seinen Vortrag. Denn für die Konzeption Mitteleuropas sei es sehr wichtig gewesen, sich nach außen abzugrenzen. Mitteleuropa besteht Troebst zufolge aus den Ländern der Visegrád-Gruppe, also Polen, Ungarn, die Slowakei und natürlich Tschechien. Die Abgrenzung bezieht sich vor allem auf die Russische Föderation und die „Ländern des Balkans“. Troebst sieht in dieser Definition jedoch eine Lücke:

„Interessanterweise ist dabei die eigentlich zentrale Frage, was wir mit Deutschland machen, weitgehend offen gelassen worden. In dem Moment, indem sich das Konzept dann institutionell verfestigt hat, in Form der Visegrád-Kooperation, war dann klar: Deutschland gehört in dieser postmodernen Mitteleuropa-Konzeption nicht dazu.“

Stefan Troebst
Die Länder der Visegrád-Gruppe hatten also zunächst das gleiche Ziel: Alle wollten in den Europarat, alle wollten in die Nato. Nachdem sie dies erreicht hatten, verflog allerdings auch der Zusammenhalt. Zwar war für alle vier Staaten klar, dass sie einen EU-Beitritt anstrebten, aber jedes Land arbeitete für sich daran, die Kriterien zu erfüllen. Troebst fügte hinzu:

„Dann galt nicht mehr die Devise, wir müssen uns unterhaken und es zusammen schaffen, sondern jeder rennt für sich und versucht vor dem anderen durchs Ziel zu gehen. Dass dann alle vier gleichzeitig 2004 der EU beigetreten sind, konnte man in den Jahren davor noch nicht in dieser Deutlichkeit erkennen.“

Für den tschechischen Historiker Křen ist Mitteleuropa nicht so klar auf die Visegrád-Gruppe zurückzuführen. Österreich beispielsweise, gehöre für ihn ebenfalls zu Mitteleuropa. Doch auch Křen schätzt das Verhältnis der mitteleuropäischen Staaten zueinander als schwierig ein:

„Also, ich bin ein wenig skeptisch in dieser Sache. Die mitteleuropäischen Staaten, beziehungsweise die zentraleuropäischen Staaten überfluten sich gegenseitig nicht gerade mit Solidarität.“

Was aber den Ländern Mitteleuropas gemeinsam ist, sei der Weg. Křen bezeichnet ihn als mitteleuropäischen Sonderweg. Als der deutsche Sonderweg endete, also 1945, hätte dieser Sonderweg Mitteleuropas angefangen. Křen erklärt:

„Sie waren nie in der sowjetischen oder russischen Sphäre. Es ist eine historische Abnormalität.“

Doch auch nach 1989 dauerte der Sonderweg noch einige Jahre an. Denn vor den Ländern Mitteleuropas lag die Herausforderung der EU beizutreten. Den EU-Beitritt hätten Ungarn, Polen, Tschechien und die Slowakei zwar jeder für sich erarbeitet, aber eben doch zur gleichen Zeit.

Dass das Verhältnis der Staaten Mitteleuropas nicht nur harmonisch ist, sei aber nicht ungewöhnlich. Auch die größeren Staaten in Westeuropa hätten Konflikte untereinander. Křen fügt jedoch mit einem Augenzwinkern hinzu, die kleinen Staaten seien vielleicht ein bisschen dogmatischer, als die größeren.