Stiefkinder der Revolution: neue Armut in Tschechien
Freiheit, Selbstbestimmung und wohl auch ein Stückchen mehr Wohlstand, das waren die Hoffnungen der Menschen im Wendejahr 1989. Nicht für alle haben sich diese Hoffnungen erfüllt - viele wurden vom schnellen Wandel der Zeiten an den Rand gedrückt.
Kde jsou ty casy - wo sind die guten alten Zeiten geblieben, als man nur zur Arbeit gegangen ist, um sich mal wieder richtig auszuschlafen? Es sind nicht nur die Vorwende-Nostalgiker, die sich in Tschechien gelegentlich zurückwünschen die eng umgrenzte, aber übersichtliche Welt vor 1989. Denn das berühmte Wort vom deutschen Kanzler Helmut Kohl, dass es niemandem schlechter, aber vielen besser gehen werde, das hat sich auch für Tschechien als zu optimistisch erwiesen. Kaum jemand weiß das besser als Jana Bednarova, Leiterin des Prager Beratungszentrums für Sozialdienstleistungen "Kontakt":
"Die Veränderungen, die hier in Tschechien mit dem Jahr 1989 begonnen haben, haben für einige unserer heutigen Klienten zur Ausgliederung aus der Gesellschaft geführt. Und der soziale Abstieg kann sich noch weiter fortsetzen, wenn diese Menschen keinen Zugang zu sozialen Diensten und sozialer Hilfe allgemein bekommen."
Genau dagegen will das Sozialberatungszentrum "Kontakt" angehen. Die Zielgruppe: Alte Menschen, Behinderte, Alleinerziehende, Familien mit Kindern - alle die also, die am wenigsten die Möglichkeit haben, flexibel auf die neuen Anforderungen zu reagieren. Besonders sozial schwache und schlecht ausgebildete Menschen sind mit dem schnellen Wandel in Tschechien häufig überfordert, weiß Jana Bednarova:
"Diese Leute waren vor der Wende mit der Führung durch das kommunistische System fähig, in bestimmter Weise zu funktionieren, ihr Leben zu meistern. Den Wandel nach 1989, den Druck der Marktmechanismen, haben dann aber viele nicht mehr bewältigen können."Trotz allem: Insgesamt liegt das Armutsniveau in Tschechien statistisch deutlich unter dem europäischen Durchschnitt, auch wenn das Wohlstandspolster in großen Teilen der Bevölkerung alles andere als dick ist. Die relative Ausgeglichenheit der Gesellschaft ist noch eine Nachwirkung des Sozialismus.
Armut aber ist nicht allein eine Frage des Geldes. Ausbreiten kann sie sich nämlich vor allem da, wo der gesellschaftliche Zusammenhalt fehlt. Eine besondere Herausforderung in den Ländern, in denen nach Jahrzehnten der staatlichen Drangsalierung die Freiheit des Individuums viel zählt, meint auch Milena Cerna vom Dachverband der Nichtregierungsorganisationen im Sozialbereich (SKOK):
"Plötzlich ist die Gesellschaft ärmer als früher, obwohl das Angebot an Kultur und an allem groß ist und viele Leute das auch nutzen. Aber es gibt eine Schicht von Leuten, die irgendwie kahl leben. Sie nehmen nicht wahr, dass sie auch inmitten der Gemeinschaft leben könnten."