Treffpunkt der Weltlinguisten in Prag

In ein wissenschaftliches Gewand kleidet sich der heutige Kultursalon. Markéta Maurová lädt Sie zum 17. Weltkongress der Linguisten ein, der kürzlich in Prag stattfand.

Sprachforscher von der Elfenbeinküste, aus Nigeria, Australien, Mexiko, aus allen Ländern Europas - an die 600 Linguisten aus der ganzen Welt gaben sich Ende Juli ein Rendezvous in Prag. Übrigens zum ersten Mal seit 1926, als das erste Symposium dieser Art veranstaltet wurde. Im großen Plenarsaal des Prager Kongresszentrums - Sie kennen diesen Saal vielleicht u.a. als Veranstaltungsort des NATO-Gipfels im vergangenen Herbst - sowie in kleineren spezialisierten Gruppen wurde überwiegend auf Englisch über alle möglichen Sprachen der Welt berichtet und diskutiert. Im Kongresspalast habe ich mich mit der Organisatorin des Welttreffens, Professorin Eva Hajicova von der Mathematisch-Physikalischen Fakultät der Prager Karlsuniversität, getroffen.

"Merkwürdigerweise hat hier noch kein solcher Kongress stattgefunden, obwohl es sich um den bereits 17. Linguistenkongress handelt - der erste fand, wenn ich mich nicht irre, im Jahre 1926 in Den Haag statt. Seitdem wechseln sich nicht nur die Länder, sondern auch die Kontinente mit der Organisation ab. Und obwohl die "Prager Schule" in der strukturalistischen Linguistik vor dem Zweiten Weltkrieg durchaus ein Begriff war, fand komischerweise noch nie ein Kongress in Prag statt. Deswegen konnten wir der Einladung des Internationalen Linguisten-Komitees nicht widerstehen."

An den ersten beiden Tagen der Konferenz standen Plenarvorlesungen auf dem Programm, danach wurden die Wissenschaftler in mehrere Arbeitsgruppen aufgeteilt und erörterten in ihren jeweiligen Sektionen speziellere Fragen. Ein zentrales Thema oder Motto gab es nicht.

"Das Besondere an diesen Weltkongressen der Linguisten, die alle fünf Jahre stattfinden, ist eben, dass sie Linguisten aus den unterschiedlichsten Fächern zusammenbringen. Sie haben kein spezifisches Thema. Allerdings wurden dennoch einige Themen für die eingeladenen Gastredner ausgeschrieben. In diesem Jahr gab es vier, und zwar: Erstens die Typologie der Sprachen, zweitens die sog. bedrohten Sprachen, drittens die Sprache und das Gemüt und viertens Methoden der Linguistik. Ansonsten ist aber die Arbeit in den Sektionen sehr vielfältig. Wir haben zehn Sektionen und wirklich alles, was in der Linguistik geschieht, kann hier zur Geltung kommen."

Gleich zu Beginn unseres Gesprächs hat Frau Prof. Hajicova den Weltruf und die Bedeutung der sog. "Prager Schule" erwähnt. Die Prager Linguisten der Zwischenkriegszeit, unter denen vor allem Vilem Mathesius die führende Rolle spielte, haben zur Entwicklung der Sprachwissenschaft und des Strukturalismus entscheidend beigetragen. Während man bis daher die Sprachen eher aus der sog. diachronen, historischen Hinsicht erforschte, d.h. in Bezug darauf, wie sich die jeweilige Sprache entwickelt hat, brachte der Strukturalismus zwei neue wichtige Aspekte. Zum einen war es das synchrone Studium, d.h. das Studium der Gegenwartssprache. Und zum anderen hat man die Sprache nicht nur als ein Ensemble von einzelnen gegenseitig unverbundenen Erscheinungen, sondern als ein System angesehen.

"Die 'Prager Schule' hat diese beiden Themen bzw. Grundprinzipien übernommen und durch ein Prinzip ergänzt, das gerade als ihr großer Beitrag gilt. Dieses Prinzip hat dieser Schule auch die Bezeichnung Funktionslinguistik beschert. Die Schule führte den Aspekt des Funktionierens der Sprache neu ein: Wozu dient die Sprache, wie funktioniert sie? Und damit ist die Prager Schule bis heute von internationalem Interesse."

Man begann also, das Funktionieren der Sprache innerhalb der Gesellschaft zu studieren. Es wurden z.B. verschiedene stilistische Schichten je nach dem Gebrauch bestimmt, man hat verschiedene Milieus erforscht, in denen die Sprache gebracht wird usw.

"Das ist einer der Aspekte der Funktionslinguistik, aber ein anderer Aspekt, der sich zu einem sehr wichtigen Thema in der Nachkriegslinguistik entwickelte, ist die aktuelle Satzgliederung. Wie spiegelt sich die Unterscheidung zwischen dem, was bereits bekannt ist und wovon ich spreche, und der Information, die ich in der Mitteilung als neue bringe, in der Struktur des Satzes wider? Diese Funktionsgliederung hat bedeutende Folgen für Sprachformulierungen sowie für die semantische Interpretation, d.h. die Interpretation der Bedeutung, die heute ein breites Forschungsfeld darstellt. Und niemand vergisst dabei, dass dieses Studium mit der Prager Schule begonnen hat."

Soweit ein Abstecher in die Geschichte der Prager Linguistikschule. Kehren wir aber noch einmal zu der jüngsten Gegenwart, auf den 17. Weltkongress der Sprachwissenschaftler zurück. Hat Frau Prof. Eva Hajicova dort einen Vortrag gehört, den sie besonders interessant und bahnbrechend fand?

"Ich möchte zunächst allgemein sagen, dass ich von vielen Teilnehmern gehört habe, dass sie die Plenarvorträge sehr interessant fanden. Sollte ich auswählen, was mich sehr beeindruckt hat, würde ich zwei Vorlesungen nennen. Die eine war die Vorlesung von Prof. Emmon Bach, einem amerikanischen Professor von der University of Massachussetts. Er hat enorme Erfahrungen mit der Arbeit an den sog. aussterbenden Sprachen gesammelt, beim sog. "Fieldwork", d.h. bei der Arbeit mit dem Sprachmaterial. Und gleichzeitig ist er ein theoretischer Linguist. Er hat eine sehr schön strukturierte Vorlesung gehalten,, in der die Entwicklung und der Gegenwartsstand von linguistischen Methoden großartig und sehr übersichtlich präsentiert wurden."

Die zweite Vorlesung, die vor dem Plenum vorgetragen wurde und Frau Hajicova beeindruckte, repräsentierte die erwähnte Prager Schule sehr gut. Prof. Petr Sgall von der Karlsuniversität sprach über die Typologie der Sprachen.

"Die Sprachen der Welt haben die verschiedensten Eigenschaften, die verschiedensten Charakteristika. Prof. Sgall stellte sich die Frage, wie es möglich ist, sie als ein System zu betrachten, d.h. nicht nur in verschiedene Typen zu unterteilen, sondern hinter dieser Klassifizierung etwas Tieferes zu sehen. Warum hat eine Sprache Endungen und die freie Wortfolge im Satz? Gerade weil sie die Endungen hat, kann sie die freie Wortfolge haben, weil die Endungen verraten, welche Rolle das jeweilige Wort spielt. Wenn eine Sprache wie etwa Englisch nicht so viele Endungen hat, muss sie eine feste Wortfolge haben, weil man an der Position des Wortes im Satz erkennt, ob es sich um ein Subjekt oder ein Objekt handelt. Soviel zu diesem Vortrag, aber ich könnte eigentlich alle acht Plenarvorlesungen als besonders interessant bezeichnen."

Die Vorlesungen der Gastredner sowie die sog. "State of the Art Papers", d.h. Beiträge über den Stand in einzelnen Domänen der Sprachwissenschaft werden bis Weihnachten von einem Verlag in Amsterdam publiziert. Sämtliche Vorlesungen des Kongresses werden dann auf einer CD-Rom zusammengefasst, die ebenfalls während des Herbstes herausgegeben wird. Mit dem aktuellen Stand der Linguistik wird sich daher ein breiteres Publikum bekannt machen können.