Tschechien vor Grund legenden Reformen im Sozialbereich

Premierminister Vladimir Spidla

Seit einigen Wochen wird in Tschechien heftig über die geplanten Reformvorhaben der tschechischen Regierung diskutiert. In der folgenden Schauplatz-Sendung werden Sie von Silja Schultheis und Robert Schuster dazu nähere Details erfahren.

Verfolgt man die gegenwärtige innenpolitische Debatte in Tschechien, muss man dabei zwangsläufig zu dem Schluss kommen, dass es in diesem Sommer hierzulande wohl kaum das traditionelle Sommerloch geben wird. Der Grund dafür ist einfach: Das Mitte-Links-Kabinett von Premierminister Vladimir Spidla plant im Herbst tief greifende Einschnitte bei den Ausgaben des Staates und zudem noch grundlegende Reformen, etwa im Sozialbereich oder beim Rentensystem. Somit ist für genug Zündstoff gesorgt und die Schwierigkeit und Komplexität der Materie wird sicherlich die eine oder andere Wortmeldung begünstigen.

Tschechien ist aber nicht das einzige Land, in dem in den kommenden Monaten bei den öffentlichen Ausgaben der Rotstift angesetzt werden soll. In einigen Ländern, wie etwa in Österreich oder Frankreich, wo die dortigen Regierungen auch die Reform der Pensionssysteme in Angriff genommen haben, gab es sogar massive Streiks und Protestkundgebungen. Wo liegen also die Ähnlichkeiten zwischen den Reformvorhaben in Tschechien und anderswo in Europa? Auf den ersten Blick müsste man nämlich meinen, dass die Ausgangslage sehr unterschiedlich ist, denn schließlich handelt es sich z.B. bei Frankreich, Österreich oder Deutschland um ausgeprägte Sozialstaaten, die nun reformiert werden sollen. In Tschechien sind jedoch die Voraussetzungen völlig anders.

Diese Frage stellten wir dem Wirtschaftsforscher Daniel Munich vom Zentrum für angewandte Wirtschaftsforschung der Prager Karlsuniversität:

"Jeder dieser Staaten hat seine Spezifika, die die Unterschiede zu allen anderen ausmachen, aber dennoch lässt sich sagen, dass die Probleme vieler dieser Länder ähnliche Ursachen haben. Zum einen handelt es sich um Veränderungen in der demographischen Struktur der Bevölkerung. Zum anderen hängt das mit stetig steigenden Kosten der Sozialleistungen in diesen Ländern zusammen. Die Umverteilung hat einen derart hohen Grad erreicht, dass es keine Möglichkeiten mehr gibt, das durch eine weitere Anhebung der Steuern zu regulieren. Tschechien hat natürlich nicht die gleiche Entwicklungsstufe erreicht, wie alle anderen westeuropäischen Länder, aber paradoxerweise ist auch hierzulande das Maß der Umverteilung so hoch, dass wir in Verbindung mit der demographischen Entwicklung heute vor sehr ähnlichen Problemen, wie die Länder der Europäischen Union."

Vergleicht man die jetzigen Reformbestrebungen der Regierung mit jenen aus der jüngsten Vergangenheit, stellt sich dabei eine ganz grundsätzliche Frage: Inwieweit sind die nun vorgesehenen Maßnahmen wirkliche Reformen, die diese Bezeichnung auch verdienen und das Ziel haben, längerfristig zu greifen? Ist es nicht doch wieder, so wie in der Vergangenheit, lediglich eine Art Reformkosmetik, die nur zum Stopfen von akuten Finanzlöchern dient? Daniel Munich meint dazu:

"Das, was die Regierung Spidla bislang vorgelegt hat, ist eine Kombination von vielen Einzelmaßnahmen. Einerseits sind es Abstriche bei den einzelnen Kapiteln im Staatshaushalt, und zwar fast überall gleich, ohne dabei bestimmte Prioritäten zu setzen. Daneben plant die Regierung einige Dinge, deren Verwirklichung wohl einen längeren Zeitraum erfordern wird und da stellt sich wiederum die Frage, ob auch die kommenden Regierungen das in dieser Form übernehmen werden. Sieht man sich die Reformvorschläge der Regierung als Ganzes an, muss man zum Schluss kommen, dass eigentlich die meisten Schritte in die Zukunft angelegt sind und von jenen, die bereits heute verwirklicht werden könnten, gibt es in der Regierungsvorlage nicht viele."

In den meisten westeuropäischen Ländern, in denen gegenwärtig vergleichbare Reformanstrengungen unternommen werden, sieht man, dass die Vorschläge, die von der Regierung kommen, sich wirklich nicht wesentlich von den Konzepten der Opposition unterscheiden. In Tschechien ist das aber nicht der Fall. Die stärkste Oppositionspartei des Landes, die rechtsliberale ODS, sorgt schon seit langem mit einigen ihrer - für mitteleuropäische Verhältnisse - revolutionären Vorschlägen für Aufsehen. So fordert die Partei etwa schon einige Jahre die Einführung einer sog. "gleichen Steuer", auch "Flat-Tax" genannt, d.h. eines unabhängig von der Höhe des Einkommens für alle gleichen Satzes für die Einkommenssteuer. Das Steuersystem soll dadurch nach den Überlegungen der ODS-Wirtschaftspolitiker übersichtlicher und durchschaubarer werden und keine steuerlichen Schlupflöcher mehr erlauben. Nun hat die Opposition einen zweiten ähnlichen Vorschlag präsentiert, der einer Abschaffung aller jetzigen sozialen Beihilfen gleichkäme. Die Bürger bekämen dafür als Ausgleich monatlich pauschal 4000 Kronen, über die sie dann frei verfügen könnten.

Steckt aber hinter diesen Vorschlägen der Opposition wirklich ein durchdachtes Alternativ-Konzept dahinter? Der Wirtschafsforscher Munich ist da eher skeptisch:

"Ich meine, dass diese Vorschläge in Wahrheit keinen eigenständigen Reformansatz darstellen, sondern dass es sich eher um ein von den Medien dankbar aufgegriffene Scheinvorlage handelt, hinter der kein wirklich durchdachtes Konzept steckt. Auf der anderen Seite darf aber keine normale Oppositionspartei darauf hoffen, dass sie mit irgendwelchen eigenen Reformvorschlägen Wahlen gewinnen kann. Auch deshalb lassen die Vorschläge der ODS wichtige Details vermissen, weil das ja auch nicht in ihrem Interesse liegen kann. Dieser Vorschlag mit dem monatlich ausbezahlten Beitrag anstelle von sozialen Beihilfen, taugt eigentlich höchstens für irgendwelche akademische Debatten unter Wirtschaftswissenschaftler, so nach dem Motto: "Was wäre wenn...?", aber für eine praktische Umsetzung ist das eine allzu verrückte Idee."

Ein ganz wichtiger Bestandteil der gegenwärtigen Regierungsvorhaben ist auch die Reform der Rentensysteme. Während jedoch in anderen Ländern von Politikern schon seit langem über die notwendigen Schritte diskutiert wurden, hatte es in Tschechien offenbar niemand für notwendig gehalten, über eine Reform des Rentensystems nachzudenken. Die Warnungen der Experten wurden laut Daniel Munich von den Parteien ganz einfach ignoriert:

"Eigentlich geht es darum, dass die tschechischen Sozialdemokraten bis vor kurzem die Meinung ihres damaligen Sozialministers vertraten, des heutigen Premiers Vladimir Spidla. Spidla hat eigentlich der Öffentlichkeit gegenüber ganz einfach die Unwahrheit gesagt, als er behauptete, dass das tschechische Rentensystem stabil und gesichert ist und somit keine Veränderungen erfordert. Auch die Opposition konnte dann nicht vor die Wähler treten und behaupten, das jetzige System sei schlecht, benötige einer dringenden Reform, sonst könnte es keine Garantie für die Renten geben. So etwas würde für jede Partei das Aus bedeuten. So ist das leider. Zum anderen fehlt auch der Bevölkerung nach den vielen Jahren im Kommunismus ein Grundgefühl für alles Wirtschaftliche. Die Debatten, die nun geführt werden, haben keinen rationalen Kern und die breite Öffentlichkeit ist da einfach desorientiert."

Verfolgt man die aktuellen Debatten in Europa, sieht man, dass viele Wirtschaftswissenschaftler der Meinung sind, die Regierungen müssten auch Maßnahmen treffen - etwa im Bereich des Kündigungsschutzes -, damit der Arbeitsmarkt flexibler wird. Wie verhält es sich eigentlich mit dem tschechischen Arbeitsmarkt? Abschließend kommt noch einmal der Wirtschafsforscher Daniel Munich zu Wort:

"Ich muss jetzt ganz ehrlich sein und als Ökonom gestehen, dass die Frage, ob die tschechische Wirtschaft tatsächlich durch den Arbeitsmarkt determiniert ist, oder nicht, schon lange für Debatten sorgt, weil die Frage nicht so einfach zu beantworten ist. Ich persönlich meine, dass der tschechische Arbeitsmarkt immer noch weitaus flexibler ist, als etwa der deutsche. Vorsichtiger wäre ich aber bei einem Vergleich zwischen dem tschechischen und etwa dem britischen oder amerikanischen Arbeitsmarkt."