Tschechische Kinderheime lassen vieles zu wünschen übrig
Erwachsen zu werden und eine Stelle für sich im normalen Leben zu finden ist wohl für jedes Kind keine leichte Aufgabe. Viel schwieriger ist das aber für Kinder, die von klein auf in einem Kinderheim leben mussten - ohne eine Familie im Rücken und ohne Verbindung zum realen Leben. Diese Kinder, das zeigte erst jüngst wieder eine Studie, sind besonders davon bedroht, auf die schiefe Bahn zu geraten. Die Möglichkeiten der Erziehung in einer Pflegefamilie sind in Tschechien aber immer noch sehr begrenzt.
„Das ist ein trauriges Primat der Tschechischen Republik. Umso mehr noch, weil man hierzulande auf eine alte Tradition der Ersatzfamilienpflege zurückblicken kann. Wir hatten alle Voraussetzungen dafür, dass die Entwicklung in die richtige Richtung geht. Schon vor 40 Jahren haben sich hierzulande herausragende Kinderpsychologen wie zum Beispiel die Universitätsprofessoren Matějček und Dunovský und andere Persönlichkeiten für verschiedene Alternativprojekte eingesetzt, damit verlassene Kinder nicht in den Kinderheimen bleiben müssen.“
Die Ursachen der unerfreulichen Situation sieht Bubleová in der unzureichenden Legislative und zugleich auch im mangelnden politischen Willen, das ganze System der Kinder- und Jugendhilfe von Grund auf zu ändern. Probleme gibt es, simpel gesagt, einen ganzen Haufen. Das hat auch eine analytische Studie bestätigt, die vor kurzer Zeit im Auftrag der Regierung erarbeitet wurde. Das bestehende Angebot der Kinder- und Jugendhilfe hierzulande entspricht nicht den Bedürfnissen einer zivilisierten Gesellschaft. Jitka Gjuričová, Leiterin der Abteilung für Kriminalitätsprävention beim tschechischen Innenministerium, sagt es noch anders:
„Bei uns existiert im Prinzip kein System der Fürsorge für bedrohte Kinder. Es gibt zwar eine ganze Reihe von verschiedenen Institutionen, die hier tätig sind, aber sie arbeiten nicht zusammen. Ihre Mitarbeiter kommunizieren miteinander nur, wenn sie sich perönlich kennen und unformale Beziehungen pflegen. Dementsprechend sieht auch die Situation in diesem Bereich aus!“
Die erwähnte Studie ermittelte die Situation von über 17.000 Kindern, die im Laufe der zurückliegenden zehn Jahre das institutionelle Ersatzpflegesystem verlassen haben. Zu diesem gehören verschiedene Typen der Pflege- und Sozialeinrichtungen für Kinder vom Vorschulalter bis zum 18. Lebensjahr: die Kinderheime mit oder ohne Schuleinrichtung und die so genannten Erziehungsinstitute und diagnostischen Institute. Wie sich diese Kinder beziehungsweise Jugendlichen im normalen Leben verhalten, belegt Gjuričová mit folgenden Zahlen:
„Von den 17.500 Kindern haben 9751, das sind 56 Prozent, eine Straftat begangen. Noch alarmierender ist, dass 38 Prozent von den Heimkindern, genau 6542, ihre erste Straftat erst verüben, nachdem sie die Pflegeeinrichtung verlassen haben.“
Es zeige sich, folgert Gjuričová, dass die in einer Sozialeinrichtung verbrachte Zeit, in der eine relativ gute Fürsorge gewährleistet wird, noch etwa ein Jahr in den ehemaligen Heimschützlingen nachwirkt. Nach einem Jahr in der unbehüteten Welt aber kommt der kritische Punkt. Viele schaffen es nicht länger, sich den Normen zivilen Lebens anzupassen, und rutschen ins Verbrechen. Ein weiteres gravierendes Problem ist:
„Die Kinder verbringen in den Kinderheimen und ähnlichen Einrichtungen durchschnittlich 14,5 Jahre. Das ist ein Horror! In der Praxis sieht es so aus: Ein Kind kommt mit ungefähr 3 Jahren in ein Kinderheim und bleibt dort bis zu seiner Volljährigkeit. Nur ein kleiner Teil dieser Kinder kehrt in die eigene Familie zurück. Es deutet darauf hin, dass die Sozialarbeit mit Familien, die auf die baldige Rückkehr dieser Kinder in ihre Herkunftsfamilien hinauszielen würde, praktisch nicht funktioniert.“
Jitka Gjuričová spricht von einer fast absoluten Absenz einer Nachfolgepflege für die ehemaligen Heimkinder. Es gebe zwar verschiedene Bürgerinitiativen, die zwar aufgrund eines Systems arbeiten, das aber nicht landesweit funktioniere. Petra Vrtbovská, Leiterin der 2003 gegründeten Bürgerinitiative NATAMA, kann sich mit dieser Behauptung identifizieren und hat dafür die folgende Erklärung:
“Unsere Arbeit ist systematisch, leider ist sie aber nicht landesweit erreichbar. Das jetzige System der Sozialarbeit entspricht im Großen und Ganzen immer noch dem, das wir hierzulande vor dem Wendejahr 1989 hatten. Das ist sein großer Nachteil. Moderne Methoden gelangen zu uns nur durch eine Zusammenarbeit mit dem Ausland, sind jedoch wiederum nicht kompatibel mit dem bestehenden System, weil dieses veraltet ist. Da wir eine Organisation sind, die sich um Kinder in Pflegefamilien kümmert, die einen Teil des staatlichen Kinderschutzsystems bilden, können wir auf die Zusammenarbeit mit dem Staat gar nicht verzichten. Wir sind also in das System offiziell eingebunden, aber dieses System hat viele Löcher, durch die viele Kinder durchfallen.“
Ähnlich urteilt auch Michaela Svobodová, Leiterin der 1997 gegründeten Bürgerinitiative DOM, die volljährigen Ex-Heimkindern bei ihrem Einstieg in den Alltag hilft:
„Ich glaube, dass in Tschechien immer noch eine traditionelle Denkweise lebt, die wir schon geerbt haben. Diese Denkweise besteht darin, dass man allgemein glaubt, dass es den Kindern, die in einer sozial schwachen oder aus anderen Gründen nicht gut funktionierenden Familie leben, in einem Kinderheim besser geht als in der Herkunftsfamilie. Es hat dort genug Spielsachen, man fährt ans Meer, und jetzt vor Weihnachten sind wir auch Zeugen unzähliger Spendenaktionen zur Unterstützung der Kinderheime, und viele Leute freuen sich darüber, dass sie helfen können. Und das ist unser Erbe, dieser soziale Mythos. Dabei ist jede derartige Einrichtung für das Kind im Prinzip schädlich.“
Hinter den eingangs genannten Zahlen bleiben individuelle Menschenschicksale verborgen. Beim Lebensstart hatten sie wenig Glück. Viele von ihnen haben auch später nur selten eine helfende Hand. Ein bisschen Glück im Unglück hatte der 19-jährige Mirek, der vor einiger Zeit ein Kinderheim verlassen hat:„Im Kinderheim war ich seit meinem 4. Lebensjahr und habe dort ungefähr 15 Jahre verbracht. Weil ich dort nicht bleiben durfte, musste ich mich auf eigene Beine stellen. Im Kinderheim habe ich eine Erzieherin lieb gewonnen, die ich auch an Wochenenden zu Hause besuchen durfte. Als ich das Heim verlassen sollte, hat sie mir sehr viel geholfen, den Antrag auf Sozialhilfe und eine Wohnung zu stellen. Dafür bin ich ihr unheimlich dankbar. Als ich kleiner war, wollte sie mich als Pflegekind aufnehmen, aber die damalige Kinderheimleiterin erlaubte ihr das nicht. Am schwersten war für mich, denke ich, der Gedanke, dass ich im Kinderheim bin und keine Familie habe. Als ich das Heim verlassen sollte, wusste ich bis zum letzten Moment nicht, wohin ich gehen werde.“