Tschechische und deutsche Antifaschisten in Děčín nach Kriegsende

Foto: Archiv der Stadt Ústí nad Labem

Am 8. Mai war alles vorbei. Der Zweite Weltkrieg war endlich zu Ende, das Naziregime besiegt. In vielen Ländern, die unter der Naziherrschaft gelitten haben ist der 8. Mai ein staatlicher Feiertag. So auch in Tschechien. Im März 1945 erreicht die Rote Armee das erste Dorf in Mähren. Mitte April überschreiten amerikanische Einheiten im Westen die Grenze zur Tschechoslowakei; am 6. Mai 1945 befreien sie die Stadt Plzeň /Pilsen. In Prag beginnt am 5. Mai der Prager Aufstand und trägt zum Ende der NS-Herrschaft in der Hauptstadt bei. Doch wie sieht das Kriegsende in anderen Gebieten aus? Im Kapitel aus der tschechischen Geschichte geht es um unmittelbare Nachkriegszeit im nordböhmischen Děčín / Tetschen und über ein wenig bekanntes Beispiel tschechisch-deutscher Zusammenarbeit.

Prager Rundfunk 1945
"Tschechoslowakische Armee! Halt aus, halt aus! Gerade ertönten hier Maschinengewehre und Panzerfäuste! Tschechische Hände verteidigen den Rundfunk! Wir sind mit Euch, seid ihr ihm Geiste mit uns! Wir werden Prag verteidigen! Prag ist frei, und Prag wird frei bleiben!"

Diesen Aufruf sendete der Rundfunk am zweiten Tag des Prager Aufstandes an die Armee und die Bevölkerung. Vier Tage lang wurde in Prag auf Barrikaden gekämpft. Über 1500 Tschechen, etwa 800 Wehrmachtssoldaten und rund 600 sowjetische Soldaten verloren in diesen letzten Kriegstagen ihr Leben. Am 8. Mai unterzeichnete der Oberbefehlshaber der Wehrmacht in Prag die Kapitulation. Die Soldaten zogen nach Westen ab. Am 9. Mai, als die Kämpfe bereits entschieden waren, marschierte die Rote Armee in Prag ein.

Überall im Land übernahmen bei Kriegsende die neu gebildeten Nationalausschüsse die Macht aus den Händen der Deutschen. Diese Machtübernahme konnte von Ort zu Ort sehr unterschiedlich verlaufen. Oft gelang diese erst mit der Hilfe der russischen, amerikanischen oder tschechoslowakischen Armee. Dort wo es Widerstandgruppen oder Partisaneneinheiten gab, waren sie es, die bei Kriegsende oder auch schon kurz vor Kriegsende die Macht übernahmen. Das war zum Beispiel in der nordböhmischen Stadt Děčín / Tetschen der Fall. Wie das Kriegsende dort aussah, dazu nun Petr Joza, der stellvertretende Archivdirektor des Bezirksarchivs der Stadt:

"Die Stadt Tetschen-Bodenbach / Děčín-Podmokly war eine Kreisstadt und war damals eigentlich fast nur von Deutschen besiedelt. Die militärische Lage war hier bei Kriegsende sehr unübersichtlich. Es gab zersprengte SS-Einheiten, die aus Holländern und Rumänen bestanden. Die zogen hier von Ort zu Ort und waren am 8. Mai in der Stadtmitte von Děčín. Am 8. Mai gab es einen russischen Fliegerangriff. Die Russen sind entlang der böhmischen Seite des Erzgebirges in Richtung Elbe gezogen und haben die Orte, die sie noch nicht am Boden erreicht hatten, aus der Luft angegriffen, um ein bisschen Verwirrung zu stiften. Bei diesem Luftangriff sind hier über 300 Menschen ums Leben gekommen. Die Opfer waren Zivilpersonen und auch russische, italienische und polnische Zwangsarbeiter", so Petr Joza.

Zur gleichen Zeit versuchten tschechische und deutsche Widerstandskämpfer gemeinsam, in der Stadt Děčín die NS-Führung abzusetzen und die Leitung der Stadt zu übernehmen. Petr Joza:

Wehrmachtstruppen in Prag
"Während des Luftangriffs gab es eine Unterredung der hiesigen Antifaschisten mit der NSDAP-Leitung. Unter den Antifaschisten waren sowohl Tschechen als auch Deutsche. Als dann die Bomben fielen, haben die Nazis aufgegeben und sind geflüchtet. Diese kleine Gruppe von Antifaschisten hat dann die Macht übernommen, also das Landratsamt und das Bürgermeisteramt. Die Gruppe bestand aus Tschechen, die hier schon vor dem Krieg gelebt hatten, als tschechische Minderheit, sowie aus deutschen Kommunisten und Sozialdemokraten. Aber es waren nur wenige Leute und die Gruppe musste sich aufteilen. Je vier bis fünf Leute haben das ganze große Amtsgebäude übernommen."

Kurze Zeit später traf in Děčín die zweite polnische Armee ein, die im Verband der Roten Armee kämpfte.

Im ganzen Land wurden Nationalausschüsse gebildet. Die Deutschen sollten aus allen Ämtern entfernt und durch Tschechen ersetzt werden. In den ehemaligen Sudetengebieten war das aber fast unmöglich, da dort bei Kriegsende nur relativ wenig Tschechen lebten. Das waren meistens Tschechen, die die Gebiete nach deren Abtretung an Deutschland im Zuge des Münchner Abkommens 1938 nicht verlassen hatten. Im Bezirk Děčín lebten Anfang Mai 1945 etwa 122.000 Einwohner, davon waren etwa 120.000 deutscher Nationalität.

Das heutige Děčín / Tetschen  | Foto: Ondrej.konicek,  Wikimedia Commons,  CC BY 3.0
Bei den tschechischen und deutschen Antifaschisten, die in Tschechien gemeinsam im Widerstand gekämpft hatten, spielte die Nationalität bei der Besetzung der leitenden Posten nach dem Krieg zunächst nicht die entscheidende Rolle:

"Der erste Bürgermeister nach dem Fall des Dritten Reiches war ein Deutscher, Albert Allert, das war ein Antifaschist. Das war praktisch, die Stadt war nämlich von Deutschen besiedelt, und man musste mit der Bevölkerung irgendwie kommunizieren. Die Tschechen konnten das teilweise nicht oder nicht richtig. Allert war glaube ich, Verwaltungsbeamter und kannte sich aus. Aber schon nach wenigen Tagen wurde Allert abgesetzt, wegen seiner deutschen Nationalität", erläutert Petr Joza.

Ist bekannt, ob in diesem ersten Nationalausschuss tschechische und deutsche Widerstandskämpfer zusammen arbeiteten, die wirklich sechs Jahre gemeinsam im Widerstand waren und dann auch in der Nachkriegszeit zusammen gewirkt haben, zumindest für ein paar Tage?

"Also am Anfang war das wirklich so. Es gab Menschen, die schon während der Kriegszeit kleine Gruppen gebildet hatten, weil sie sich als Antifaschisten kannten. In Steinschönau / Kamenický Šenov gab es eine Gruppe, die hat sogar am Ende des Krieges eine öffentliche Sammlung für Waffen durchgeführt. Das war aber noch während der Nazi-Herrschaft. Die wurden dann fast alle geschnappt. Einige von denen waren nach dem Krieg zusammen in dem ersten Nationalausschuss."

Die Beteiligung deutscher Widerstandskämpfer, in der Regel Kommunisten oder Sozialdemokraten, an den neu ins Leben gerufenen Nationalausschüssen war keine Seltenheit, sondern gab es auch in anderen Bezirken. Als dann die tschechische Armee, Revolutionsgarden und die ersten tschechischen Neusiedler kamen, die sich in den Grenzgebieten niederlassen wollten, weil die Aussiedlung der Deutschen bereits beschlossene Sache war, hatten solche tschechisch-deutschen Kooperationen, wie im Deciner Rathaus keine Chance mehr.

Rote Armee in Prag
"Die ersten Tschechen, die dann nach Mai 1945 hierher kamen, die wollten von den deutschen Antifaschisten überhaupt nichts hören, die wollten die Deutschen aus der Verwaltung entfernen. Es kam dann auch das tschechische Militär und das war sehr streng in dieser Sache. Die deutschen Antifaschisten waren sofort weg vom Fenster", so Petr Joza.

Der deutsche Antifaschist, Albert Allert, der für einige Tage den Nationalausschuss in Decin geführt hatte, wurde durch den tschechischen Widerstandskämpfer Frantisek Eret ersetzt. Besonders die Tschechen, die als Neusiedler nach Decin kamen beschwerten sich darüber, dass ein Deutscher an der Spitze der Verwaltung stand. Die tschechischen Neusiedler waren allgemein radikaler gegen die Deutschen eingestellt als diejenigen Tschechen, die ihr ganzes Leben mit Deutschen zusammen in den Grenzgebieten gelebt hatten, wie Petr Joza erläutert:

"Die Tschechen, die hier waren, die konnten ganz genau unterscheiden. Die kannten die Leute und wussten, wer gut ist und wer schlecht. Wer immer ein Nazi gewesen war, wer sich immer nach dem Wind gedreht hat und wer immer standhaft gewesen war. Aber die Tschechen, die hierhin kamen, zum Beispiel aus Melnik oder aus Prag, die kannten hier keinen. Die sahen nur Deutsche und Tschechen. Die Deutschen sprachen deutsch und deshalb waren sie schlecht. Und weil die Leute mit solchen Ansichten innerhalb von wenigen Monaten nach Kriegsende die Oberhand bekamen, waren auch die deutschen Antifaschisten, die im Krieg wirklich was geleistet haben, ziemlich schlecht dran."

Auch wenn in der Tschechoslowakei nach dem Krieg die Stimmung mehrheitlich gegen die Deutschen gerichtet war, so gab es doch Fälle für tschechisch-deutsche Zusammenarbeit, vor allem bei den tschechischen und deutschen Antifaschisten. In Decin gab es ein besonderes Beispiel. Nach dem Krieg erschien eine tschechisch-deutschsprachige Zeitung der kommunistischen Partei. Was es damit auf sich hat, erklärt Petr Joza:

Vertreibung der Sudetendeutschen
"Das ist eigentlich eine Anomalie. Die Kommunisten haben ja immer behauptet, sie wären international. Die haben natürlich auch zusammengearbeitet. Alle Parteien in der Ersten Tschechoslowakischen Republik, haben sich nach den Sprachen getrennt, auch die Sozialdemokraten. Die Kommunisten aber nicht. Es gab nur eine tschechoslowakische kommunistische Partei, in der auch die Deutschen mit drin waren. Und die haben gedacht, sie könnten so weiter machen wie vorher, aber das war ein Irrtum. Die Redaktion wurde dann auf Befehl der Kommunisten aus Prag aufgelöst. Aber so lange es die Zeitung gab, war es ganz gut, weil die Doppelsprachigkeit die Informationen an die mehrheitliche Zivilbevölkerung weitergeleitet hat. Die konnten sonst nichts erfahren. Die Zeitung trug den Namen Noviny Děčín-Podmokly / Zeitung Tetschen-Bodenbach."

Die tschechischen Kommunisten in Děčín protestierten gegen die Entscheidung des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei, die Zeitung einzustellen. Sie warnten davor, dass durch diesen Schritt der Kontakt mit den deutschen Genossen verloren gehen würde. Letztendlich beugten sie sich aber der Entscheidung aus Prag.

Was waren die ersten Aufgaben und Maßnahmen in Děčín in den ersten Wochen und Monaten nach Kriegsende?

"Die erste Aufgabe war die Chaosbewältigung. Überall lagen Waffen herum. Es gab abgestellte Militärfahrzeuge mit Waffen und Munition. Es gab Blindgänger in der Stadt. Einige deutsche Pyrotechniker haben sogar eine Gruppe gebildte, die hat ein Jahr lang Munition eingesammelt und diese Blindgänger entschärft und in einem Steinbruch gesprengt. Die Zivilverwaltung musste sich natürlich um die Belange der Zivilbevölkerung kümmern. Die hat zum Beispiel die Versorgung mit Lebensmitteln organisiert."

Was passierte mit der deutschen Bevölkerung in Děčín und Umgebung nach Kriegsende?

Vertreibung der Deutschen
"Bis Ende Mai mussten alle Flüchtlinge aus Schlesien und alle Reichsdeutsche hier raus. Es gab dann Auffangstationen und diese Menschen wurden per Bahn oder auch per Schiff nach Deutschland geschickt und es blieben nur die Sudetendeutschen, also die einheimischen Deutschen. Die wurden dann nach und nach aus den Wohnungen ausgewiesen und in ehemaligen Zwangsarbeiterlagern einquartiert. Im Mai kam bereits das tschechische Militär. Im Juni wurde die erste so genannte wilde Vertreibung durchgeführt. Die Menschen wurden zusammengetrieben und mussten zu Fuß über die Grenze nach Bad Schandau in Sachsen. Dadurch sind eigentlich erst Wohnungen freigemacht worden für die tschechischen Neusiedler. Die haben es dann so übernommen, wie es war. Meistens wurde nur eine kurze Inventarliste gemacht. Und die haben dann die Wohnung zugewiesen bekommen mit den Möbeln, mit den Privatsachen der Vertriebenen."

Die neuen Siedler kamen zu Hunderttausenden aus dem Binnenland in die Grenzgebiet. Ende 1945 waren es schon fast 1 Million. Die Hauptstadt Prag verließen 92.000 Menschen in Richtung Grenzgebiete. Davon kamen viele nach Děčín. Ein Teil der Stadt erinnert noch heute an diese Zuwanderer, wie Petr Joza weiß:

"Es gibt einen Ortsnamen, den sie aus Prag mitgenommen haben. Im Stadtteil Bodenbach / Podmokly gibt es ein Villenviertel, das hieß früher Krohübel. Das konnten die Tschechen erstens nicht übersetzen und zweitens auch kaum aussprechen. Im Sommer 1945 wurde dieses Viertel umgetauft in Letná, nach dem gleichnamigen Prager Stadtteil, wo es auch Villen gibt. Der Name ist nach wie vor gültig."

Was bedeutet der 8. Mai in Děčín aber heute?

"Es werden natürlich nicht so pompöse Veranstaltungen gemacht wie vor der Wende. Kleinere Aktionen gibt es aber nach wie vor. Ich glaube aber nicht, dass die Mehrheit der Bevölkerung das heutzutage interessiert. Das ist aber überall so, nicht nur hier und auch nicht nur in der Tschechischen Republik. Die Generationen haben sich ausgetauscht und es gibt jetzt andere Menschen, die andere Sorgen haben. Die Geschichte des Zweiten Weltkriegs spielt heutzutage nicht mehr die Rolle, die sie noch vor 15 oder 20 Jahren gespielt hat."


Dieser Beitrag wurde am 8. Mai 2007 gesendet. Heute konnten Sie seine Wiederholung hören.