Vor 100 Jahren: Altorientalist Hrozný entschlüsselt Sprache der Hethiter
Seinerzeit nannte man ihn den „tschechischen Champollion“, in Anlehnung an den berühmten Franzosen, der Anfang der 1820er Jahre durch die Entzifferung der Hieroglyphenschrift in die Geschichte eingegangen war. Der tschechische Sprachwissenschaftler und Altorientalist Bedřich Hrozný publizierte vor genau 100 Jahren in Berlin die Erkenntnisse seiner Erforschung auf dem Gebiet der hethitischen Keilschrift. Mit seiner Verkündung, die älteste indoeuropäische Sprache entziffert zu haben, überraschte er die Welt der Wissenschaft. Es dauerte mehrere Jahre, bis anerkannt wurde, dass Hrozný die Tür zu einer Kultur aufgestoßen hatte, in der auch die Wurzeln der modernen Nationen Europas liegen.
1906 veranstaltete die Deutsche Orientgesellschaft eine archäologische Expedition in das Gebiet der heutigen Türkei, geleitet vom renommierten Assyriologen und Sprachwissenschaftler Hugo Winckler. In den Ruinen der Hethiter-Hauptstadt Hattusa wurden damals rund 1300 Tontafelfragmente mit Keilschrifttexten in akkadischer Sprache geborgen. Bis 1912 summierte sich die Zahl der Fragmente dank weiterer Ausgrabungen auf etwa zehntausend. Der Großteil davon blieb im Museum von Konstantinopel zurück.
Nach Konstantinopel entsandt
Die Auswertung dieser Funde stoppte allerdings, als Hugo Winckler schwer erkrankte und dann 1913 starb. Bedřich Hrozný bekundete darauf großes Interesse daran, die Tontafeln weiter zu untersuchen. Pavel Onderka ist Ägyptologe beim Prager Nationalmuseum:„Im April 1914 wurde Hrozný offiziell von der Deutschen Orient-Gesellschaft nach Konstantinopel entsandt, um die dort gelagerten Tontafelfragmente zu sichten und die Texte zu erforschen. Zum Auftrag gehörte auch die Veröffentlichung der Texte. Schon im Herbst 1915 gab Hrozný bekannt, die Sprache der Hethiter entziffert zu haben.“
Der Erste Weltkrieg war da bereits ausgebrochen, und Hrozný wurde sogar aus Konstantinopel zurückbeordert und zum Militärdienst eingezogen. Wegen starker Kursichtigkeit musste er aber nicht an die Front. Stattdessen war er als Schreiber in einem Militärlager in Wien eingesetzt und konnte sich daneben weiter seinen Studien widmen. Aus Konstantinopel hatte er die Abschriften vieler Texte mitgebracht.Am 24. November 1915 hielt Bedřich Hrozný einen Vortrag bei der Deutschen Orientgesellschaft in Berlin mit dem Titel „Die Lösung des hethitischen Problems. Ein vorläufiger Bericht“. Dabei ordnete er das Hethitische den indoeuropäischen Sprachen zu. Dies belächelten viele seiner Kollegen aber als eher dubiose Theorie.
„Epochemachende Ergebnisse“
Im Dezember 1915 hieß es in den „Mitteilungen der Deutschen Orientgesellschaft“ über Hroznýs Ausführungen:„Dass an seinen Aufstellungen noch vieles problematisch ist, weiß er selbst am besten. Dass ihm aber der große Wurf im Ganzen geglückt ist, kann nicht mehr bezweifelt werden. Von welcher Tragweite seine Entdeckung ist, aber auch wie verwickelt die Probleme sind, die sich jetzt innerhalb des ganzen Umkreises der vorderasiatischen, speziell der kleinasiatischen Völker und Sprachen erheben, hat Herr Professor Eduard Meyer in seinen einführenden Worten, die Hroznýs Aufsatz vorausgehen, dargelegt.“
Der Ägyptologe und Altorientalist Eduard Meyer sagte damals:
„Die Aufgabe, in den Bau der Sprache einzudringen und das Verständnis des Textes durch methodische Arbeit zu erschließen, hat Herr Prof. Hrozný im Anschluss an die Abschrift und Bearbeitung der in Konstantinopel liegenden Texte, mit glücklichstem Erfolge in Angriff genommen... Eine Nachprüfung der Ergebnisse, zu denen Hrozný gelangt ist, ist selbstverständlich zurzeit völlig ausgeschlossen... Andrerseits sind die Ergebnisse, ihre Richtigkeit vorausgesetzt, so epochemachend und von so weittragender Bedeutung, dass es ganz unmöglich ist, die dadurch neu aufgeworfenen Probleme jetzt schon zu übersehen.“
Das Hethitische wurde ursprünglich für eine kaukasische Sprache gehalten. Auch eine Verwandtschaft mit dem Georgischen schlossen die Wissenschaftler nicht aus. Der Hethitologin Jana Součková zufolge vergingen fast zehn Jahre, bis Hroznýs Theorie über die Einordnung der hethitischen Sprache von der wissenschaftlichen Gemeinschaft vorbehaltlos aufgenommen wurde.„Anfangs konnten sich Hroznýs Kollegen mit seiner revolutionären Hypothese absolut nicht identifizieren. Es gab viele Zweifel und später sogar Kritik. Besser wurde es auch dann nicht, als Hrozný zwei Jahre später seine umfassende Grammatik veröffentlichte. Seine Überzeugung brachte er dabei im Titel des Werkes zum Ausdruck: ‚Die Sprache der Hethiter. Ihr Bau und ihre Zugehörigkeit zum indogermanischen Sprachstamm. Ein Entzifferungsversuch‘. Die Diskussion lief auch danach unverändert weiter. Ab 1922 begann sich eine Gruppe deutscher Wissenschaftler ernsthaft mit den Fragen des Hethitischen zu befassen. 1924 kam man zum Schluss, dass Hrozný allem Anschein nach Recht habe. Bei der nachfolgenden Analyse von neu veröffentlichten Texten, an der sich auch Hrozný selbst mit viel Akribie beteiligte, wurde die Gültigkeit seiner Entzifferung endgültig bestätigt“, so Jana Součková.
Deutsche Philologen zögern bis 1924
Im selben Jahr fand in Jena die Tagung deutscher Philologen statt. Dabei wurde ein, wie es hieß, auch ein „Hethiter-Tag“ veranstaltet. Die Tagungsteilnehmer, unter ihnen vor allem Orientalisten und Indogermanisten, unterstützten abschließend die These über die indoeuropäische Herkunft des Hethitischen.Die ersten zwei Sätze eines Satzgefüges, die es Bedřich Hrozný zu übersetzen gelang, sind in die Geschichte eingegangen. Zur Entzifferung des Originalwortlauts „NINDA-an ezzatteni watar-ma ekutteni nu NINDA-an éccátteni wátarma ekútteni“ war es ein mühsamer Weg. Petr Charvát, Ägyptologe der Prager Karlsuniversität:
„Der philologisch außerordentlich talentierte Bedřich Hrozný wollte durch die Lektüre der in seiner Zeit bekannten Keilschrift die unbekannte Sprache identifizieren. Er befasste sich als erster systematisch mit der Hypothese, dass die Sprache der Hethiter dem indoeuropäischen Sprachstamm zuzuordnen ist. Seine Arbeitsmethode beschrieb er so: Er schaute sich einen Text an, der aus seiner Sicht geeignet für die Entschlüsselung schien, einmal, zehnmal, fünfzigmal, hundertmal, bis ihm etwas auffiel. Das versuchte er dann mit dem grammatikalischen System einer ihm bekannten Sprache zu beleuchten.“ Nach und nach gelang es Hrozný, eine Art Vokabular zusammenzustellen, indem er einzelne Wörter notierte und zugleich den Kontext, in dem sie verwendet wurden. Mithilfe dieses Fundaments konnte er letztlich die zwei zitierten Sätze übersetzen, die einem Ritus entstammten: „Jetzt werdet ihr das Brot essen, dann werdet ihr das Wasser trinken.“Hrozný rettet Studenten vor den Nazis
Noch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war nicht bekannt gewesen, dass es überhaupt ein Hethiterreich gegeben hatte. Dabei galt es um das Jahr 1600 vor Christus nach Ägypten als zweitwichtigste politische Macht im Vorderen Orient. Dank der Entzifferung der Sprache durch Bedřich Hrozný konnte die moderne Welt vieles über die im Altertum liegenden Wurzeln der Hethiter erfahren. Petr Charvát:
„Bekannt wurden viele Informationen über eine Zivilisation, die eine gewissermaßen einzigartige Position in der Welt des Altertums einnahm. Sie lebte an der Kreuzung traditioneller Regionen der Keilschriftkultur und Europas. Dadurch kam es zu einer Verschmelzung der aus beiden Richtungen kommenden Kulturströmungen. Viele Schreiber, Gelehrte und Beamte des Hethiterreiches waren gut ausgebildet auf dem Gebiet der mesopotamischen Literatur, die in Keilschrift verfasst war. Zugleich kannten sie auch viele Traditionen, die mit indoeuropäischen Kulturströmungen verknüpft waren. In ihrer Literatur bestehen aber auch gewisse Vorformen konkreter Themen, die man zum Beispiel aus der griechischen Klassik kennt. Erinnert sei an Troja, die bedeutendste Stadt, die auf den Fundamenten der hethitischen Kultur erwuchs. Die Vorgängerstadt Wilusa war ein wichtiges Zentrum der hethitischen Welt.“In der Zwischenkriegszeit entwickelte sich Hroznýs berufliche Karriere weiterhin erfolgreich. Anfang 1919 wurde er zum Professor für Keilschrift und altorientalische Geschichte an der Prager Karlsuniversität ernannt. Neben seiner Lehr- und Forschungstätigkeit machte er die Erkenntnisse der Orientalistik auch mit großem Eifer populär. Er publizierte in tschechischer, deutscher, englischer sowie französischer Sprache und pflegte Kontakte mit einer Reihe ausländischer Universitäten. Hrozný verstand sich gerne auch als Archäologe und nahm an einigen Expeditionen nach Syrien und Anatolien teil. Vor der Schließung der tschechischen Hochschulen durch die deutsche Besatzungsmacht bekleidete er das Amt des Rektors der Karlsuniversität. Als die Nazis am 17. November 1939 tschechische Studenten verhafteten, konnte er durch sein mutiges Auftreten einigen das Leben retten. Der Begründer des Wissenschaftszweiges Hethitologie starb am 12. Dezember 1952 in Prag.