Vor und nach dem Zweiten Weltkrieg: Beneš durch die deutschböhmische Brille
Edvard Beneš, der ehemalige Außenminister und Staatspräsident der Ersten Tschechoslowakischen Republik, war im Oktober das Thema einer Konferenz im Goethe-Institut in Prag. Historiker aus Deutschland, Tschechien, aber auch zum Beispiel aus Großbritannien diskutierten über die kontroversen Wahrnehmungen von Beneš. Geladen hatten das Masaryk-Institut und das Archiv der Wissenschaften gemeinsam mit dem Collegium Carolinum aus München. Marco Zimmermann war bei der Konferenz und hat nachgefragt, wie sich das Bild von Beneš bei den Deutschen aus der Tschechoslowakei gewandelt hat.
Deutsche nationale Kreise, aber auch die Sozialdemokraten, griffen Beneš in der Ersten Republik zwar an, als Außenminister war er aber in der politischen Auseinandersetzung zwischen Deutschen und Tschechen kein Fixpunkt. Erst mit dem Aufstieg der Sudetendeutschen Partei (SdP) in den 1930er Jahren wurde Beneš wieder interessant für die deutschen Politiker. Der britische Historiker Mark Cornwall erklärt, was die SdP von Beneš erwartete:
„Ich glaube, es gab bei einigen Leuten in der Sudetendeutschen Partei immer die Hoffnung, dass es eine Möglichkeit gibt, Druck auf Beneš auszuüben. Sie hatten natürlich eine negativ Meinung von Beneš, dass er ein tschechischer Nationalist war, aber ich glaube wirklich, dass es in der Henleinbewegung immer einige Leute gab, die dachten, dass man etwas von Beneš bekommen konnte.“Aufgrund von Benešs Position als Außenminister und seines Engagements im Völkerbund sah die SdP vermeintliche Verhandlungsspielräume für mehr Volksgruppenrechte. Nachdem er dann 1935 zum Präsidenten der Republik gewählt wurde, lassen sich intensivere Versuche beobachten, mit Beneš in Verhandlungen einzutreten. Noch einmal Mark Cornwall:
„Die Führung der Partei wollte sich immer mit Beneš treffen. Vor allem Konrad Henlein hatte immer die Idee, sich einmal mit ihm zu treffen, aber es war nie möglich, weil Beneš ein Treffen immer verweigert hat. Die Henleinbewegung hat immer geglaubt, dass sie einen Diskurs auf gleicher Augenhöhe, Tschechen und Deutsche, führen könnte. Das war sicher nicht möglich, Beneš wollte das nie.“Die Versuche, mit Beneš zu verhandeln werden aber im Vorfeld des Münchener Abkommens nicht weiterverfolgt. Henlein, der Führer der Sudetendeutschen Partei, hatte sich bereits im November 1937 in einem Brief nach Berlin der bedingungslosen Führerschaft Adolf Hitlers unterworfen. Und damit änderte sich natürlich auch seine Haltung zu Beneš, wie Professor Cornwall weiß:
„Im Jahr 1938 ist die Situation anders. Henlein weiß nun, dass es keine Möglichkeit mehr gibt, mithilfe der Tschechen eine Lösung zu finden. Nun hing alles von Hitler und dem Deutschen Reich ab. Sicherlich gab es auch da noch einige Leute in der Leitung, die noch dachten, dass alles so weiterginge wie bisher und dass es möglich sei, Druck auf Beneš auszuüben.“Die Verhandlungen zwischen Deutschen und Tschechen scheiterten, wie man heute weiß, weil Konrad Henlein Anweisungen hatte, alle Angebote der tschechischen Seite abzulehnen. Um einen Krieg zu verhindern einigten sich die Regierungschefs Italiens, Frankreichs und Großbritannien auf eine Abtretung der Grenzgebiete der Tschechoslowakei an Deutschland – die Tschechoslowakei durfte an den Verhandlungen nicht teilnehmen.
Beneš fühlte sich von den Verbündeten Frankreich und Großbritannien verraten. Fünf Tage später trat er von seinem Amt als Staatspräsident zurück und ging ins Exil nach London. Am 21. Juli 1940 ernannte er dort die tschechoslowakische Exilregierung unter Jan Šrámek.Ins Exil nach London konnten sich auch die deutschen Sozialdemokraten aus der Tschechoslowakei retten. Unter der Führung von Wenzel Jaksch waren sie die größten Gegner der Sudetendeutschen Partei gewesen und arbeiteten zunächst in London mit Beneš zusammen. Allerdings zerstritten sie sich mit der Exilregierung über die Pläne der Aussiedlung, die den Sozialdemokraten viel zu weit gingen.
Nach dem Zweiten Weltkrieg war die Haltung der Deutschen zu Beneš natürlich von der Vertreibung und ihren Folgen geprägt. Der Historiker Tobias Weger hat in seiner Dissertation die Diskurse der Vertriebenenorganisationen untersucht:„Edvard Beneš wurde aufgrund seiner Präsidialdekrete gerne in die Rolle des Hauptverantwortlichen gedrängt. Seit 1945 hat das Bild Edvard Benešs bei den sudetendeutschen Vertriebenenorganisationen einen negativen Geschmack erhalten.“
Neben dem Bild des Hauptverantwortlichen für die Vertreibung existieren aber auch noch andere Bilder, so Weger weiter:
„Zum Beispiel der Vorwurf, Beneš habe bereits seit der Gründung der Tschechoslowakei 1918 darauf hingewirkt, die Deutschen mehr oder weniger schnell aus dem Staat zu beseitigen. Zuerst heißt es, er habe versucht, die Deutschen zu assimilieren, also zu Tschechen zu machen. Dann aber werden ihm auch recht früh Vertreibungspläne unterstellt. Das ist historisch sehr problematisch, hier eine solche Kontinuität zu sehen, aber man findet sie in den Bildern.“
In den vergangenen 20 Jahren hat sich das Bild Edvard Benešs in sudetendeutschen Kreisen extrem negativ gefärbt. Anlass dazu waren die politische Wende und die Integration der Tschechischen Republik in die westlichen Strukturen, wie zum Beispiel der Nato oder der EU-Beitritt. Tobias Weger erklärt dies so:„Bei all diesen Stationen gibt es immer wieder Versuche der Sudetendeutschen Landsmannschaft, Beneš zu instrumentalisieren, zum Beispiel indem gesagt wird, dass die Tschechische Republik nicht europareif sei, solange nicht die so genannten Beneš-Dekrete abgeschafft werden. Hier lässt sich sehr schön der Mechanismus erkennen, dass eine Person dafür verantwortlich gemacht wird für das, was unter dem Stichwort Vertreibung zusammengefasst wird. Historisch gesehen geht dies aber nicht auf die Person Beneš alleine zurück. Zum einen geschah es mit der Zustimmung der Alliierten, sonst wäre es gar nicht möglich gewesen 3,5 Millionen Menschen aus der Tschechoslowakei auszusiedeln oder zu vertreiben. Zum anderen war es natürlich auch eine Gesamtentscheidung der Tschechoslowakischen Regierung und nicht das einsame Handeln von Beneš, der hier gewissermaßen als Diktator aufgetreten sein soll. Es war eine Konsenshandlung, die sicherlich damals auch von der Mehrheit der tschechoslowakischen Gesellschaft mitgetragen wurde.“
Wegers Meinung nach fand bei den Vertriebenenverbänden eine Emotionalisierung und Personalisierung statt. Eine generelle Unzufriedenheit mit der tschechoslowakischen Politik wurde auf eine Person projiziert, damit leichter argumentiert und agitiert werden konnte. So entstand zum Beispiel auch der so genannte „Beneschismus“, ein künstlich in den 1950er Jahren entstandener Kampfbegriff der Sudetendeutschen Landsmannschaft. Dieser hielt sich auch noch bis in die 1990er Jahre.Allerdings betont der Historiker Weger, dass es nicht nur ein Bild Edvard Benešs bei den Sudetendeutschen gebe, eine große Zahl habe ihn als Staatspräsidenten akzeptiert und respektiert. Man dürfe also das Bild Benešs nicht nur aus den Äußerungen der Organisationen ableiten:
„Und das hat sich natürlich auch nach 1945 fortgesetzt. Was aus München aus den Verlautbarungen der Sudetendeutschen Landsmannschaft gekommen ist, spiegelt nicht die alleinige Meinung der Sudetendeutschen wieder, sondern ein bestimmtes Spektrum politischer Meinungsäußerungen von einem ganz bestimmten Verband, der aber nicht die Meinungsführerschaft hatte.“