Vorbild für Europa: Die Notrufnummer 112 in Tschechien
Ein falscher Schritt, ein unachtsamer Moment im Auto, eine umgefallene Kerze, ein Einbruch: Innerhalb weniger Sekunden kann man in eine unangenehme oder sogar lebensbedrohliche Situation kommen. Dann ist schnelle Hilfe gefragt. An wen wende ich mich am besten? Wo befinde ich mich eigentlich genau? Im Ausland kommt noch das Sprachproblem hinzu. Doch innerhalb der EU braucht man nicht lange nachzudenken: In alle 27 Mitgliedsländern gibt es die einheitliche Notrufnummer 112, so auch in Tschechien. Bereits nach weniger als fünf Sekunden ist man hierzulande mit der Notrufzentrale verbunden, wo man auch auf Deutsch und auf Englisch Hilfe anfordern kann. Für den vorbildlichen Betrieb des „Euro-Notrufs“ 112 ist die tschechische Feuerwehr kürzlich von der EU ausgezeichnet worden.
„Notruf 112, Guten Tag!“
3,8 Millionen Mal haben die Mitarbeiter der tschechischen Berufsfeuerwehr im vergangenen Jahr diesen Satz gesagt. So oft hat nämlich in einem der 14 Call-Center“ der Feuerwehr das Telefon geklingelt.
Die Behörde ist dem Innenministerium unterstellt und ist in Tschechien für den Betrieb der europäischen Notrufnummer 112 zuständig, wie Luděk Prudil von der Generaldirektion der Berufsfeuerwehr erläutert:
„Wenn wir uns in Europa umsehen, ist es meistens entweder die Polizei oder die Feuerwehr, die die Notrufnummer 112 betreibt, oder eine eigens dafür eingerichtete staatliche Organisation. Also war bei uns auch die Frage: Feuerwehr oder Polizei. An den Rettungsdienst haben wir deswegen nicht gedacht, weil der regional unterschiedlich organisiert ist. Ursprünglich hat in Tschechien die Polizei den Notruf 112 betreut, doch die waren davon nicht sehr begeistert. Also hat die Feuerwehr das übernommen.“
Bereits Mitte der 1990er Jahre gab es in Tschechien Pläne zur Einrichtung des so genannten „Euro-Notrufs“ 112. Im Jahr 2000 beschloss die Regierung schließlich die Einrichtung der Notrufzentralen:
„Der entscheidende Moment war das Jahr 2004: Im Zusammenhang mit der Eishockey-WM wurde die erste Notrufzentrale in Prag in Betrieb genommen. Im Sommer desselben Jahres folgten elf weitere Call Center. Seit Anfang 2005 sind in allen 14 Kreishauptstädten inklusive Prag die Notrufzentralen in Betrieb,“so Feuerwehr-Pressesprecher Petr Kopáček.Eine der Notrufzentralen mit den meisten Anrufen ist jene in der Hauptstadt Prag. Rund 450.000 Gespräche wickeln die Feuerwehrfrauen und –männer im Jahr ab. Drei bis fünf so genannte „Operatoren“ versehen in dem Saal im zweiten Stock der Hauptfeuerwache rund um die Uhr Dienst. Jeder von ihnen spricht zumindest deutsch oder englisch. Einer davon ist Jan Karásek. Der junge Mann mit dem Dienstgrad Fähnrich sitzt an einem der Schreibtische. Insgesamt vier große Monitore hat er vor sich und ein Kopfhörer-Mikrofon-Set auf dem Kopf. Das Telefon klingelt. Bereits nach dem ersten Läuten wird die Verbindung automatisch hergestellt:
„Notruf 112, Guten Tag!“
Automatisch öffnet sich auf einem der Bildschirme ein elektronisches Formular. Auf einem weiteren Monitor erscheint eine Straßenkarte:
„Wenn jemand anruft, sehe ich sofort die Telefonnummer und den Netzbetreiber. Bei einem Festnetz-Anschluss erscheint auf der Karte die genaue Adresse. Auch die Telefonzellen können ganz genau lokalisiert werden. Ruft jemand von einem Handy an, sehen wir den Standort auf etwa 500 Meter genau.“
Diese Ortsbestimmung erweise sich immer wieder als sehr hilfreich, denn sonst würden die Einsatzkräfte oft zum falschen Ort fahren, betont die Leiterin der Prager Notrufzentrale, Kateřina Budinová:
„Zum Beispiel hat uns vor kurzem jemand angerufen und uns einen Unfall in der Bělehradská-Straße gemeldet. Unser Mitarbeiter hat allerdings auf seinem Bildschirm gesehen, dass sich der Anrufer in der Bělohorská-Straße befindet, also ganz am anderen Ende von Prag. Also hat er nachgefragt, um herauszufinden ob der Unfall nun in Prag 6 oder in Prag 2 ist.“
Dank der technischen Hilfsmittel spare man nicht nur wertvolle Zeit bei der Suche nach dem Einsatzort: Auch Scherzbolde haben schlechte Karten. Falschmeldungen kommen allerdings selten vor, berichtet Schichtleiterin Kateřina Papírníková, die neben Jan Karásek Dienst in der Prager Notrufzentrale versieht:
„Die meisten Touristen rufen an, weil ihr Auto abgeschleppt wurde. Sie achten oft nicht auf die verschiedenen Parkverbotszonen. Vielen wird auch das Auto ausgeräumt, weil sie Taschen und Wertgegenstände offen herumliegen lassen, was die Diebe natürlich anlockt. Und auch Verkehrsunfälle werden häufig gemeldet. Manchmal wollen die Leute aber auch nur eine Auskunft oder ein Taxi bestellen. Das ist zwar wirklich nicht unsere Aufgabe, aber wenn wir Zeit haben, geben wir auch hier die entsprechenden Telefonnummern weiter.“Zudem gäbe es häufig Probleme mit Wechselstuben im Prager Stadtzentrum: Viele Besucher übersehen das Kleingedruckte in den ausgehängten Geschäftsbedingungen und fühlen sich betrogen, ergänzt die Leiterin der Notrufzentrale, Kateřina Budínová. In so einem Fall wird die städtische Polizei losgeschickt, um die Situation zu klären.
Benötigt jemand hingegen wirklich dringend Hilfe, verständigt der Telefonist die benötigten Einsatzfahrzeuge. Dies geschieht vollautomatisch und innerhalb weniger Sekunden, wie Telefonist Karásek erklärt:
„Ich wähle hier im Computer aus, wer gebraucht wird: Feuerwehr, Polizei oder Rettungsdienst oder alle drei. Mit vorbereiteten Stichworten beschreibe ich das Ereignis: ein Verkehrsunfall, ein Brand, ein Diebstahl oder ein Überfall.“
Noch während der Telefonist tippt, werden die einzelnen Einsatzorganisationen automatisch verständigt und rücken aus.
Auch für plötzliche technische Probleme ist man gerüstet: Fällt eine der Notrufzentralen aus oder ist vorübergehend überlastet, werden die Anrufe automatisch an ein Call Center in einer anderen Stadt weitergereicht. Dank der einheitlichen Ausrüstung können auch von dort aus alle notwendigen Maßnahmen getroffen werden. Bei Verständigungsproblemen mit fremdsprachigen Anrufern ist die moderne Technik ebenfalls eine große Hilfe, erklärt Luděk Prudil von der Feuerwehrdirektion:„Kürzlich hatten wir den Fall, dass in Prag jemand den Notruf gewählt hat, der nur französisch sprach. In der Prager Einsatzzentrale konnte niemand Französisch, die Telefonisten haben in unserem elektronischen Dienstplan aber gesehen, dass in Brünn ein französischsprachiger Telefonist sitzt. Also haben sie den Anrufer nach Brünn weitergeschaltet und der Kollege hat dann von dort aus die Prager Polizei zum Einsatzort geschickt.“
Diese ausgefeilte technische Lösung mit der vollen Vernetzung der Einsatzzentralen untereinander hat der tschechischen Feuerwehr vor einigen Monaten eine offizielle Auszeichnung durch die Europäische Kommission eingebracht. Beeindruckt zeigten sich die EU-Beamten auch von der Schnelligkeit: Viereinhalb Sekunden vergehen im Durchschnitt vom Wählen der Nummer 112 bis zum Gesprächsaufbau mit dem Telefonisten. Ein Wert, der nirgendwo sonst in Europa erreicht wird. Und auch was die Bekanntheit der Telefonnummer 112 betrifft, liegt Tschechien europaweit an der Spitze: 58 Prozent der Bürger kennen hierzulande die 112 als europäische Notrufnummer. In Italien liegt dieser Wert nur bei 3 Prozent. In Deutschland sind es 16 und in Österreich 28 Prozent.
In Zukunft möchte man aber noch einen Schritt weitergehen und die Einsatzzentralen der verschiedenen Organisationen zusammenlegen. Im nordmährischen Ostrava / Ostrau sitzen bereits heute Feuerwehrleute, Mitarbeiter des Rettungsdienstes sowie Beamte der staatlichen und der städtischen Polizei nebeneinander in einem Raum. Zurzeit handle es sich noch um einen Probebetrieb, so Feuerwehr-Pressesprecher Petr Kopáček:
„Anhand der Erfahrungen aus dem gemeinsamen Notrufzentrum Ostrau wollen wir die ideale Lösung für die anderen dreizehn Landkreise finden. Doch dazu braucht es modernste Technik, und die ist sehr teuer.“
Die Einsatzzentrale in Ostrau wurde mehrheitlich von der EU bezahlt. Die tschechische Regierung hofft nun auch für die übrigen Standorte auf Unterstützung aus Brüssel.