Wendepunkt im Ersten Weltkrieg: die tschechoslowakische Legion in Italien

Tschechoslowakische Legion

Anfang 1918, dreieinhalb Jahre nach dem Ausbruch, geriet der Erste Weltkrieg in eine entscheidende Phase. Damals ahnte jedoch kaum jemand, dass die Zeichen auf ein nahes Kriegsende standen. Österreich-Ungarn hatte bereits in Friedenszeiten gravierende Probleme mit seinen Nationalitäten gehabt – nun sollten sich diese für das weitere Schicksal der Monarchie als fatal erweisen. Auch die politischen Vertreter der Tschechen und Slowaken drängten auf die Gründung eines selbstständigen Staates. Ihre Bestrebungen erhielten einen Schub durch den „Kongress der unterdrückten Nationen Österreich-Ungarns“ und die offizielle Anerkennung der tschechoslowakischen Legion in Italien.

Der Kongress fand im April 1918 in Rom statt. Die Initiative zu dem Treffen war von der „Liga der unterdrückten Nationen in Österreich-Ungarn“ gekommen, dieser Zusammenschluss war erst zwei Monate zuvor gegründet worden. Vom 8. bis 11. April trafen sich Exilvertreter der Tschechen, Slowaken, Polen, Rumänen und Südslawen (Kroaten, Serben und Slowenen) sowie Italiener. Die Veranstaltung wurde auch von offiziellen Stellen Italiens unterstützt, doch die Reaktionen führender Politiker waren gespalten. Das lag bestimmt auch an der Schlusserklärung, dem sogenannten Pakt von Rom - in diesem bekräftigten die Konferenzteilnehmer das Recht jedes Volkes auf Selbstbestimmung und politische sowie wirtschaftliche Unabhängigkeit.

Vittorio Orlando
Allerdings waren die italienischen Politiker gespalten in ihrem Verhältnis zu den genannten Völkern der Habsburger Monarchie. Dies verkörperte beim Kongress niemand besser als der italienische Ministerpräsident Vittorio Orlando und Außenminister Sidney Sonnino. Über Ersteren schreibt der italienische Historiker Angelo Ara in seiner Studie „Diplomatische Aspekte des Ersten Weltkriegs: der Fall Österreich-Ungarn“:

„Orlando und andere italienische Persönlichkeiten, die schon lange Beziehungen mit der tschechischen und südslawischen politischen Emigration hegten, glaubten, der Zeitpunkt für eine engere Zusammenarbeit zwischen Italien und den nationalen antihabsburgischen Oppositionen sei gekommen.“

Pavel Helan  (Foto: Tschechisches Fernsehen)
Dieser Kurs der Nationalitätenpolitik passte allerdings Außenminister Sonnino nicht ins Konzept, meint Pavel Helan, Historiker an der Prager Karlsuniversität:

„Für den Fall, dass Österreich-Ungarn den Krieg zwar verlieren, aber nicht zerfallen würde, und Italien an der Seite der Siegermächte stünde, so Sonninos Gedankengang, sollte es in der Folge nicht schwer sein, der Monarchie bestimmte Gebiete abzuverlangen. So zum Beispiel das Trentino-Alto Adige oder die Gebiete der früheren Republik Venetien, die seinerzeit an der Adria-Küste bis nach Dalmatien reichte. Sollte jedoch ein selbständiges Staatsgebilde der bislang in der Donaumonarchie lebenden Südslawen entstehen, sähe das Ergebnis für Italien anders aus. Aus diesem Grund war Sonnino gegen die Auflösung des Habsburgerreiches. Sehr reserviert zeigte er sich auch gegenüber der Gründung der tschechoslowakischen Legion in Italien, die als eine der Prioritäten des ´tschechoslowakischen Projektes´ vorgesehen war. Dass die Gründung der Legion auch zum Zerfall des Habsburgerreichs führen würde, darüber war sich der italienische Außenminister ebenso im Klaren.“

Tschechoslowakische Legion
Doch die tschechoslowakischen Exilpolitiker Edvard Beneš und Milan Štefánik wollten am Rande des römischen Kongresses mit italienischen Regierungsvertretern gerade über die Bildung dieser Legion verhandeln. Beide Politiker standen gemeinsam mit Tomáš Garrigue Masaryk an der Spitze des 1916 in Paris gegründeten „Tschechoslowakischen Nationalrates“, der vor Kriegsende die internationale Anerkennung als tschechoslowakische De-Facto-Regierung erreichte. Zu seinen großen Erfolgen gehörte der auf diplomatischem Weg ausgehandelte Aufbau autonomer tschechoslowakischer Armeen: Dies waren Legionen, die seit 1917 auf der Seite der Entente in Frankreich und Russland kämpften.

Milan Rastislav Štefánik
„Bei den Verhandlungen mit der italienischen Seite, die Beneš, vor allem aber Štefánik in Rom führten, wurde diesmal die seit geraumer Zeit angestrebte Bildung der tschechoslowakischen Legion beschlossen. Das entsprechende Dokument wurde am 21. April 1918 unterzeichnet – das war symbolisch, den zu diesem Datum feiert die italienische Hauptstadt traditionell ihre Gründung durch die mythologischen Gestalten Romulus und Remus“, so der Historiker Pavel Helan.

Unter den Teilnehmern des römischen Kongresses war auch der international noch wenig bekannte Journalist und Publizist Benito Mussolini. Nicht nur dort plädierte der künftige Duce Italiens enthusiastisch für das Zustandekommen der tschechoslowakischen Legion und die Entstehung der selbstständigen Tschechoslowakei. 20 Jahre später half Mussolini dann dabei, dass es zum Untergang des Staates kam. Pavel Helan:

Benito Mussolini
„Anfang 1918 veröffentlichte die von Mussolini gegründete Tageszeitung ´Il Popolo d´Italia´ einen Teil seiner älteren Schrift über den böhmischen Kirchenreformator Jan Hus. Im Sommer 1918 gehörte Mussolini zu den Journalisten, die Außenminister Sonnino heftig wegen mangelnden Willens attackierten, die Entstehung der Tschechoslowakei zu unterstützen. Ebenso kritisch urteilte er über das andauernde Lavieren der ganzen italienischen Regierung, während Frankreich und Großbritannien den Tschechoslowakischen Nationalrat als obersten Repräsentanten des künftigen Staatsgebildes anerkannten.“

Die Kritik der Journalisten war damals am Platze. Die tschechoslowakische Exilrepräsentanz traf auf eine Verzögerungstaktik der italienischen Seite. Schon die Forderung, die Gefangenen aufgrund der von ihnen angegebenen Nationalität aufzuteilen, erwies sich als großes Problem. Italiens Staatsführung betrachtete diese Gefangenen en bloc als Soldaten der österreichisch-ungarischen beziehungsweise deutschen Armee. Erst Anfang 1917 leitete das italienische Kriegsministerium die Nationalitätentrennung in die Wege. Ein Teil derjenigen, die aus den Böhmischen Ländern und dem Gebiet der heutigen Slowakei stammten, wurden in das Gefangenenlager Santa Maria Capua Vetere in Süditalien eingewiesen.

Edvard Beneš  (Foto: U. S. Library of Congress,  Free Domain)
„Dort wurde zu Jahresbeginn 1917 ein Freiwilligenkorps gegründet, in dem mehrheitlich Tschechen, aber auch einige Slowaken vertreten waren. Sie wollten für einen selbständigen Staat kämpfen und waren sehr frustriert über das lange Warten. Edvard Beneš gelang es erst im September 1917, Verhandlungen über den Kampfeinsatz der entstehenden Verbände aufzunehmen. Die italienische Regierung war jedoch zunächst nur bereit, ihre Zustimmung für bestimmte Hilfsarbeiter-Tätigkeiten zu erteilen – aber keinesfalls für den direkten Einsatz an der Front. Das änderte sich erst im April 1918“, erläutert Helan.

Das bedeutet: Der Umschwung kam erst nach dem römischen Kongress. Dagmar Hájková, Historikerin an der tschechischen Akademie der Wissenschaften, korrigiert die in Tschechien verbreitete Vorstellung, dass sich Tschechen und Slowaken in der österreichisch-ungarischen Armee beziehungsweise in der italienischen Gefangenschaft von Anfang an massenhaft für den Kampf gegen die Monarchie entschieden hätten: „Zu Jahresbeginn 1917 kommt zum Beispiel ein gewisser Jan Čapek, von Beruf Beamter aus dem mittelböhmischen Kladno, in das Gefangenenlager nahe Neapel. Er und sieben weitere Männer wollen unbedingt am Widerstandskampf gegen die Monarchie teilnehmen. Doch dies stößt bei ihren Landsleuten auf starke Ablehnung, diese wollen nicht in den Krieg zurück. Sie fühlen sich zwar als Tschechen, zugleich aber auch als österreichische Staatsbürger. Man darf nicht vergessen, dass sich auch viele Offiziere unter den Gefangenen befanden – und gerade diese lehnten es anfangs ab, als Legionäre zu kämpfen. Der Reifeprozess in ihren Köpfen dauerte lang.“

Trotzdem wuchs das zunächst siebenköpfige Freiwilligenkorps bis zum Oktober desselben Jahres auf 4000 Mann an. Dass Italien bei der Bildung einer tschechoslowakischen Auslandsarmee auf seinem Boden letztlich einlenkte, hatte einen pragmatischen Grund: Nach deutschen Erfolgen brauchte Italien weitere Soldaten. Pavel Helan:

„Nach dem Durchbruch der deutsch-österreichischen Armee beim norditalienischen Caporetto im November 1917 änderte sich die Lage grundsätzlich. Dadurch wurde die Front bedeutend landeinwärts bis an den Fluss Piave verschoben. Das stimmte die bislang eher reservierte italienische Führung sicher um, auch in der Frage der tschechoslowakischen Legion. Ebenso dürfte eine Rolle gespielt haben, dass tschechoslowakische Legionen mittlerweile auch in Frankreich operierten und dass ausländische Politiker zunehmen Druck auf Italien ausübten, besonders auf Außenminister Sonnino. Nicht zuletzt dürften auch die Erfolge der tschechoslowakischen Legionen in Russland Eindruck gemacht haben. Durch ihren Sieg in der Schlacht bei Sborow am 2. Juli 1917 wurden sie weltweit bekannt.“

Im Kriegs-Wendejahr 1918 wurden in Italien insgesamt rund 20.000 tschechoslowakische Freiwillige in Militärformationen unterschiedlicher Größe eingegliedert. Im Sommer und Herbst nahmen sie an schweren Kämpfen in Norditalien teil, 350 von ihnen fielen. Die tschechoslowakischen Armeen in Russland, Frankreich und Italien wurden zu Ende des Kriegs zu einem einheitlichen, alliierten und kriegsführenden Heer erklärt.