Wie viel Vielfalt verträgt Tschechien?

Foto: Archiv der Ackermann-Gemeinde

Beim Brünner Symposium vor zehn Tagen wurde erörtert, wie viel Vielfalt unsere Gesellschaften vertragen. Es diskutierten Politiker, Theologen und Fachleute aus Tschechien, Deutschland, Österreich, Polen und der Slowakei. Für Radio Prag stellte sich dabei vor allem die Frage, wie es denn um die tschechische Gesellschaft steht.

Arndt Freiherr Freytag von Loringhoven  (Foto: Archiv der deutschen Botschaft in Prag)
Lange Jahre haben sich Tschechen und Deutschen vor allem mit ihrer gemeinsamen Geschichte beschäftigt. Derzeit aber geht es um die Zukunft angesichts der Flüchtlingsmassen, die nach Europa wollen. Daher war das Brünner Symposium in diesem Jahr brandaktuell, debattiert wurde über die Vielfalt in unserer Gesellschaft. Der deutsche Botschafter in Prag, Arndt Freiherr Freytag von Loringhoven, verwies schon zum Auftakt als Gastredner auf Unterschiede:

„In Tschechien fehlt nicht die Erfahrung mit Migration, aber weitgehend mit der Integration von Muslimen. Die Debatte ist hierzulande, so scheint es mir, stark von Ängsten bestimmt und auch von einer weitverbreiteten Überzeugung, dass die Integration von Menschen aus einem so anderen Kulturkreis wie dem islamischen gar nicht funktionieren kann. Im Ergebnis schauen Deutschen und Tschechen häufig mit Unverständnis aufeinander. Hier versteht man nicht, wie man bei uns so naiv sein kann, Millionen meist muslimische Flüchtlinge aufzunehmen, ohne die hierzulande unterstellten Konsequenzen zu bedenken. Und bei uns versteht man nicht, weshalb man Kriegsflüchtlinge und politisch Verfolgte nicht aufnehmen will.“

Tomáš J. Podivínský  (Foto: ČT24)
In seiner ungewohnt politischen Rede zeichnete der deutsche Botschafter ein Bild der grenzüberschreitenden Befindlichkeiten, das in der offiziellen tschechischen Sicht nicht vorkommt. Dort heißt es, die Beziehungen seien so gut wie nie. Der tschechische Botschafter in Berlin, Tomáš J. Podivínský, fasste dies in seine Worte:

„Wenn man nur nach den Meldungen, nach den Medien urteilt, scheint es, als ob die Flüchtlingskrise die tschechisch-deutschen Beziehungen verschlechtert hat. Ich kann versichern, dass dies nicht der Fall ist. Die Tschechische Republik und Deutschland haben im vergangenen Jahr einen sogenannten strategischen Dialog begonnen. Er soll auf den Feldern gemeinsamen Interesses die Kooperation vertiefen. Das sind neben der Außen- und Europapolitik auch rein praktische Gebiete wie Wirtschaft, Verkehr und Gesundheit. Für die Zukunft hoffen wir zudem, die jeweiligen Parlamente und die Zivilgesellschaft beider Länder einzubinden.“

Willkommenskultur entwickeln

Bohuslav Sobotka  (Foto: Khalil Baalbaki,  Archiv des Tschechischen Rundfunks)
Dass es vielleicht doch nicht ganz harmonisch zwischen den beiden Nachbarstaaten zugeht, zeigt die Tatsache, dass Prag und Berlin sogar eine eigene Arbeitsgruppe zu Flüchtlingen und Integration eingerichtet haben.

In jedem Fall stellt sich für die interessierten Menschen in Deutschland die Frage, ob Tschechien tatsächlich so wenig Vielfalt verträgt, wie es scheint. Da sind zum Beispiel die Umfragen innerhalb der EU, also das sogenannte Eurobarometer. Im Herbst vergangenen Jahres äußerten sich die Tschechen und Tschechinnen da zum Teil besonders intolerant. Nur 27 Prozent gaben zum Beispiel an, dass sie sich gut fühlen würden, wenn sie mit jemandem aus dem muslimischen Kulturkreis zusammenarbeiteten. Das war der niedrigste Wert aller 28 EU-Staaten. Und auch in der offiziellen Linie schlägt sich dies nieder. So betont Premier Bohuslav Sobotka allenthalben, man stehe zwar zur Selbstverpflichtung über die Aufnahme von Flüchtlingen, die im vergangenen Jahr ausgehandelt wurde. Aber bitte keine weiteren Flüchtlinge, keine weiteren Quoten. Kulturminister Daniel Herman gehört bei der Frage nach der Aufnahme von Flüchtlingen zu den liberaleren Regierungsvertretern. Die Frage daher an ihn: Wie viel Islam verträgt eigentlich die Tschechische Republik?

Daniel Herman  (Foto: Jana Šustová)
„Das ist natürlich keine einfache Frage. Aber ich glaube, dass es hauptsächlich um die eigene Identität geht. Wir müssen wissen, wer wir sind, woher wir kommen, was unser Ziel ist, welches die Richtung für die Zukunft ist. Und wenn wir stabil in unseren Herzen sind, dann können wir uns selbst besser verstehen und ebenfalls eine Willkommenskultur entwickeln. Das ist ein Impuls der Zeit. Es geht nicht um die Zahlen, sondern um die Mentalität. Und von über 40 Jahren kommunistischer Gehirnwäsche sind in unserer Gesellschaft immer noch Spuren vorhanden. Die müssen wir beseitigen, aber das braucht seine Zeit. Wir müssen diese Mentalität erneuern. Die Kernfrage ist die nach der eigenen Identität und Stabilität“, so der Christdemokrat Herman.

Den Staat gegründet auf kulturelle Homogenität

Matěj Spurný  (Foto: Robert Candra,  Archiv des Tschechischen Rundfunks)
Die Frage der Identität – das ist wohl der Schlüssel, um die Ängste vor Fremden zu verstehen. Matěj Spurný ist Vorsitzender der Prager Bernard-Bolzano-Gesellschaft, die neben der Ackermann-Gemeinde einer der Ausrichter der Konferenz in Brünn war. Spurný sieht für die Frage nach der Identität noch andere historische Zusammenhänge als Kulturminister Herman. Für ihn gibt es neben der kommunistischen Gehirnwäsche noch ein weiteres prägendes Element für die Menschen in den vier Visegrad-Staaten Tschechien, Polen, Slowakei und Ungarn:

„Die historischen Gründe beruhen sehr stark darauf, wie diese Länder nach dem Zweiten Weltkrieg wieder aufgebaut wurden. Der Aufbau verlief zwar in den einzelnen Ländern auch unterschiedlich, aber die Identität wurde jeweils sehr stark auf den Nationalstaat und eine ethnische und kulturelle Homogenität gegründet. Das trifft ganz besonders auf Tschechien zu. Und das spielt in den Köpfen der Menschen eine starke Rolle.“

Flüchtlinge  (Foto: CC BY-NC-SA 2.0)
Daher sei es auch für die Menschen hierzulande so schwer, sich eine ethnisch buntere Gesellschaft überhaupt vorzustellen – inklusive einer anderen Einstellung der politischen Eliten zur Flüchtlingsproblematik.

Die Abriegelung der Gesellschaft zu kommunistischer Zeit habe die Denkweise noch verstärkt, so Spurný. Nach der politischen Wende von 1989 sei wiederum versäumt worden, tiefgründig über Nation, Ethnizität und Identität zu debattieren.

Viktor Orbán  (Foto: Archiv des österreichischen Außenministeriums,  CC BY-SA 2.5)
„Diese ganzen Hintergründe zeigen sich derzeit in einer ganz krassen Form – von Polen, über Tschechien, die Slowakei, bis Ungarn. Natürlich gibt es auch aktuelle Aspekte. Es hängt viel davon ab, welche Politiker gerade das Wort haben – derzeit ist das in den Visegrad-Ländern eher ungünstig. Deshalb trifft die Art der Politik, die stark mit den Ängsten und Befürchtungen spielt wie bei unserem Staatspräsidenten Zeman oder bei Viktor Orban, auf die besonderen historischen Wurzeln. Dadurch entsteht ein gefährlicher Cocktail.“

Praktische Erfahrungen machen

Gerade Miloš Zeman hat ein ums andere Mal die Ängste geschürt. Mitte Januar sagte der tschechische Präsident zum Beispiel in einem Interview für ein Boulevardblatt, dass sich Muslime praktisch nicht in die westlichen Gesellschaften integrieren ließen. Matěj Spurný:

Christliche Familie aus dem Irak,  die vor dem „Islamischen Staat“ geflohen ist  (Foto: Filip Jandourek,  Archiv des Tschechischen Rundfunks)
„Solche Sätze sind in wenigen Sekunden ausgesprochen, man braucht aber Jahre, um das wieder abzubauen. Trotzdem sollte man nicht resignieren. Es braucht viel Arbeit von unten, von der Zivilgesellschaft – und die wird auch getan. Ebenso könnte die praktische Erfahrung mit der Vielfalt helfen. Sollte irgendwann doch das europäische Solidarmodell funktionieren und würden ein paar Hundert oder Tausend Leute hierherkommen, dann bin ich überzeugt, dass auch in den Gesellschaften der Visegrad-Staaten wie in anderen die Lage der Flüchtlinge viel Solidarität wecken würde.“

Das kann aber nur heißen, dass Tschechien möglichst bald zu seinen Verpflichtungen stehen und die ersten muslimischen Flüchtlinge aufnehmen sollte. Ein Anfang ist übrigens gemacht. Auf Initiative kirchlicher Gruppen sind zu Beginn dieses Jahres einige Iraker nach Tschechien geholt worden. Es sind christliche Familien, die vor dem „Islamischen Staat“ geflohen sind.